06. Oktober 2020
Kolumne von Michael Bittner
Der Weltgeist hat es mit der ihm eigenen Ironie recht schön eingefädelt: Gerade in der Zeit, in der Deutschland das Jubiläum seiner Wiedervereinigung feiert und Europa sich gerührt an den Fall des Eisernen Vorhangs erinnert, kommen geschlossene Grenzen wieder in Mode. Allseits haben sich die Mächtigen darauf geeinigt, dass die „Festung Europa“ eben die Idee ist, die der müden Europäischen Union neues Leben einhauchen kann. Nur haben sie, wie die Corona-Pandemie zeigt, ihre Pläne gemacht, ohne eine wichtige historische Einsicht zu bedenken: Die Art, wie wir mit vermeintlich „Fremden“ umgehen, wie wir uns nach außen hin verhalten, schlägt stets auch auf das Innenleben unserer Gesellschaft, schlägt auf uns selbst zurück.
Es ist nun also anerkannt, dass der Egoismus die wichtigste, wenn nicht gar die einzige Maxime der Politik sein soll. Wundert es jemanden, dass die europäischen Staaten, als das Corona-Virus den Kontinent erreichte, in Panik auseinanderliefen wie erschreckte Hühner, statt sich zusammenzusetzen, um einen gemeinsamen Plan zur Abwehr der Gefahr zu entwickeln? Jedes Land erließ seine eigenen Regeln und schob die Schuld zum Nachbarn. Alle Staaten machten ihre Grenzen dicht, als wäre das Virus nicht schon längst im Land und der Erreger im Rachen von Ausländern gefährlicher als im heimischen Schlund. Statt gemeinsam gleiche Beschränkungen für Reisen und öffentliches Leben zu erlassen, konkurrierten die Staaten miteinander in einem richtungslosen Wettlauf um Verschärfung und Lockerung. Man ließ die Nachbarn nicht mehr ins eigene Land und empörte sich, wenn der Nachbar die eigenen Bürger nicht mehr ins Land ließ.
Und auch in Deutschland steht es ähnlich: Man feiert die Einheit, während die Zwietracht praktiziert wird. Ein Bundesland beschuldigt das andere, zu lasch oder zu streng zu sein. Dörfler beschmieren die Autos von Städtern, weil sie glauben, die Fremden aus den Metropolen könnten den Erreger einschleppen. Die armen Schweine, die im Landkreis Vechta wohnen, müssen dafür büßen, dass der Schlachtbaron Clemens Tönnies bei ihnen die Seuche verbreitet hat: Nirgendwo in Deutschland will man die Aussätzigen mehr einreisen lassen. Aber auch die Berliner sind in einigen Bundesländern schon nicht mehr willkommen. So ist sie denn dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung erneut futsch, die Reisefreiheit.
Im Osten gibt es übrigens weniger Erkrankte als im Westen. Wann kommt sie endlich, die Infektionsschutzmauer? Wenn „das legitime Eigeninteresse“ nunmehr alle Politik bestimmen soll, gibt’s eigentlich keinen Grund, vor ihrem Bau zurückzuschrecken.
Foto: Amac Garbe