11. April 2021
Kolumne von Robert Fietzke
Gestern twitterte Christian Karagiannidis, wissenschaftlicher Leiter beim DIVI-Intensivregister, zwei Grafiken zur aktuellen Corona-Lage, die es wirklich in sich haben.
Wir haben seit Beginn der #Pandemie heute den Höhepunkt der Auslastung ALLER Intensivbetten erreicht (rote und gelbe Kurve Fig.1). Das Personal bricht weg (Fig.2). Selbst wenn es zu einem harten Lockdown kommt, steigen die Zahlen weiter für 10-14 Tage. Es muss JETZT was passieren pic.twitter.com/174e06X5pY
— ECMO_Karagiannidis (@ECMOKaragianni1) April 10, 2021
Die erste zeigt den aktuellen Stand bei der Verfügbarkeit von Intensivbetten, die zweite eine Aufschlüsselung von Gründen für Betriebseinschränkungen in den Kliniken. Deutschland hat nun den bisherigen Höhepunkt bei der Auslastung aller Intensivbetten erreicht. Gleichzeitig bricht immer mehr Personal weg. Eindringlich mahnt er: „Selbst wenn es zu einem harten Lockdown kommt, steigen die Zahlen weiter für 10-14 Tage. Es muss JETZT was passieren.“ Erst wenige Tage zuvor machte er bereits deutlich „Wir verpassen jede Ausfahrt zur Senkung der Zahlen“ und ergänzte, wie dramatisch die Lage bereits in vielen Regionen ist. „Städte wie Bonn oder Bremen oder Köln haben kaum noch freie Betten für den nächsten Herzinfarkt, Verkehrsunfall oder Covid-Patienten!“
Nun steht der prognostizierte Kollaps des Gesundheitssystems nicht nur unmittelbar bevor, in einigen Regionen ist er längst da. Die ersten Landkreise, Städte und Gemeinden sind „abgemeldet“. Das heißt, sie haben keine freien Intensivbetten mehr beziehungsweise zwar noch Betten, aber eben ohne das dafür ausgebildete Personal. Konkret bedeutet das, dass die Rettungswagen Kliniken in anderen, viel weiter entfernten Regionen ansteuern müssen, wenn sie beispielsweise Covid-, Herzinfarkt- oder Unfall-Patientinnen an Bord haben. Ich habe vor vielen Jahren mal im Rettungsdienst gearbeitet, nicht sehr lang, aber ein bisschen was weiß ich noch, zum Beispiel, dass zur Rettung von Schlaganfall-Patientinnen nur wenige Minuten bleiben, um den Hirntod abzuwenden. Der Apoplex ist die dritthäufigste Todesursache in Deutschland. Alle neun Minuten stirbt hier ein Mensch daran. Es war schon vor der Pandemie schwierig, Patient*innen mit Schlaganfall rechtzeitig zu erreichen, in die nächstgelegene Klinik zu verbringen und damit ihr Leben zu retten, wie soll das in einem kollabierten System funktionieren?
Es geht um jeden einzelnen Tag
Seit Monaten reden sich Wissenschaftlerinnen, Medizinerinnen und Karl Lauterbach den Mund fusselig, um der herrschenden Politik in verständlichen Worten zu verklickern, was passieren wird, wenn es nicht aufgehalten wird. Seit Wochen melden sich immer mehr Pfleger*innen direkt zu Wort und schreien förmlich in die Tasten und Mikrofone: Wir können nicht mehr! Handelt endlich! Aber die Krisen-Regierung handelt nicht. Sie lässt wertvolle Zeit verstreichen. Man brauche noch ein bisschen zum Nachdenken. Außerdem war Ostern, entspannt euch mal. In einer Situation, in der sich täglich 25.000 Menschen neu mit dem Virus infizieren, bedeutet das bei einer dreiprozentigen Letalitätsrate, dass 750 von ihnen sterben werden – Und mit steigender Auslastung der Intensivstationen steigt auch die prozentuale Sterberate. Jeder Tag mehr, an dem Armin Laschet und Angela Merkel nur nachdenken, aber nichts tun, kostet also hunderten Menschen das Leben. Das sind die Fakten. Sie liegen klar und deutlich auf dem Tisch. Warum handelt die herrschende Politik also nicht, obwohl ihr Nicht-Handeln derart tödliche Konsequenzen für eine derart große Anzahl von Menschen hat?
Keine Sorge, dem Großkapital geht es gut
Um darauf Antworten zu finden, die jenseits von „Die sind einfach bekloppt!“ oder „Die machen doch vor allem Wahlkampf!“ liegen, müssen wir uns anschauen, welche Positionen von welchen Akteur*innen im Diskurs stark gemacht werden. Da wäre zum Beispiel Michael Hüther, seines Zeichens Ökonom, Direktor beim „Institut der deutschen Wirtschaft“ Köln und Mitglied des sogenannten Expertenrats der nordrhein-westfälischen Landesregierung unter Armin Laschet. Hüther griff all jene, die angesichts des drohenden Zusammenbruchs der Gesundheitsversorgung einen konsequenteren Lockdown fordern, frontal an und bezichtigte sie der „Lockdown-Euphorie“.
Der ständige Hinweis „wir brauchen einen Lockdown“ muss all denen wie Hohn vorkommen, deren Geschäfte, Restaurants, Hotels etc. seit Monaten geschlossen sind. Im politischen Diskurs dominiert die Lockdown-Euphorie ohne angemessene Evidenz über Wirkung & Kollateraleffekte.
— Michael Hüther (@michael_huether) April 9, 2021
Als gäbe es auch nur einen einzigen Menschen, der tatsächlich „Euphorie“, also überbordende Lust auf einen weiteren Lockdown verspüren würde. Guter Witz. In einem Kommentar antwortete er einem User: „Hatten Sie im Herbst/Winter 2017/18 mit lt RKI 25.100 Grippetoten auch so panische Angst. Wenn ja, dann bleiben Sie am besten stets zuhause.“ Panische Angst? Alles Panikmache? Alles nur wie die Grippe?
In einem weiteren Tweet, den er auf sich selbst bezieht, wird es dann noch interessanter: „Gerne wird polemisiert, mir ging es um Kapital und Gewinne. Nun: die Industrie & die mit ihr verbundenen Dienstleistungssektoren laufen seit Mai 2020 robust, jüngste Konjunkturdaten sind stark. Um das „Großkapital“ müssen wir uns deshalb pandemiebedingt nicht sorgen.“
Warum ist das so interessant, was Hüther schreibt? Das IW in Köln ist nicht irgendein Institut, sondern ein einflussreicher Interessenverband, aus dem heraus zum Beispiel der neoliberale Think Tank INSM – Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft entstanden ist. Es kommt nicht von ungefähr, dass ausgerechnet Hüther im „Expertenrat“ der Laschet-Regierung sitzt und es ist auch kein Zufall, dass ein weiteres prominentes Mitglied dieses Gremiums, Hendrik Streeck, von Lockerungs-Plädoyer zu Lockerungs-Plädoyer eilt – und von Fehlprognose zu Fehlprognose. Es geht um knallharte ökonomische Interessen. Damit „wir“ uns um die „Konjunkturdaten“ und „das Großkapital“ nicht „pandemiebedingt sorgen müssen“, lässt man eben ein paar (tausend) Menschen über die Klinge springen. Das ist die kühle, technokratische Abwägung, die hier getroffen wird. Auch wenn dieses Wort brachial und wie aus der Zeit gefallen klingt: Es geht schlicht um Menschenopfer für ökonomische Interessen. Es geht um „Kollateralschäden“.
Alltägliche Entscheidungen über Leben und Tod
Wie bitte, diese These ist doch völlig absurd? Mit Blick auf das Handeln oder, je nachdem, Nicht-Handeln bei anderen politischen Problemlagen wird deutlich, dass permanent Entscheidungen nach dieser Logik gefällt werden. Entscheidungen über Leben und Tod. Das Sterbenlassen im Mittelmeer, die illegalen Pushbacks, die menschenunwürdigen Zustände in den Lagern an den europäischen Außengrenzen, all das folgt der Logik der Abschreckung und diese Logik wiederum dient dem politischen Ziel der Verteidigung europäischer Eigentumswerte gegenüber den „Fremden“, die als Bedrohung für diese geframed werden, mal offen rassistisch als „Invasoren“, mal bürgerlich als „Wirtschaftsflüchtlinge“. Im Kern geht es darum, Menschen als Gefahr für angestammte Eigentumswerte zu markieren. Wenn die als „Wirtschaftsflüchtlinge“ Verunglimpften allerdings Arbeitsmigrant*innen aus Georgien sind, die Deutschland für die alljährliche Spargelernte ausbeuten kann, dann ist alles in Butter, oder eben in Sauce Hollandaise.
Anderes Beispiel: Eine Fußball-Weltmeisterschaft in Katar stattfinden zu lassen, ist eine Entscheidung über Leben und Tod, in diesem Fall über den Tod von 6.500 Arbeiter*innen aus Indien, Bangladesch, Nepal und Sri Lanka, die beim Bau der Stadien ums Leben gekommen sind. Für das gigantische WM-Geschäft wurden also schonungslos und brutal Tausende Menschenleben geopfert. Zum Glück hat die deutsche Herren-Nationalmannschaft letztens eine tolle Protest-Aktion veranstaltet, bei der sie in großen Lettern „Human Rights“ auf schwarzen Shirts stehen hatten. Davon wird sich bestimmt alles ändern.
Selbst die Entscheidung gegen ein Tempolimit auf Autobahnen ist eine Entscheidung über Leben und Tod. Berechnungen zu Folge könnte die Einführung desselben nämlich ca. 140 Menschenleben pro Jahr retten. Trotzdem wird diese vernünftige Entscheidung nicht gefällt, denn der Porsche will schließlich ausgefahren werden und außerdem sichert die Automobilindustrie A R B E I T S P L Ä T Z E.
Alles hat (s)einen Preis
Tagtäglich fällt die herrschende Politik also Entscheidungen, die wissentlich tödliche Konsequenzen haben, nur dass die Opfer dieser Entscheidungen meistens namenlos bleiben. Diese Anonymität des Sterbens, die auch bei der Corona-Pandemie auffällig ist, ist dabei ein eigenes Problem für sich, welches den Zustand dieser Gesellschaft recht treffend beschreibt. Die Angehörigen von Verstorbenen oder Long-Covid-Erkrankte müssen, in all ihrem Schmerz, selbst die Kraft aufbringen, ihre Geschichte zu erzählen. Mit Ausnahme einiger Medien wird ihnen das niemand abnehmen, erst recht nicht die herrschende Politik, die bereits beide Ohren an das verliehen hat, was Coronaleugner, selbsternannte „Querdenker“ und andere Verschwörungsgläubige zu berichten haben.
Die Auseinandersetzung um die richtige Corona-Strategie ist nichts Geringeres als eine um das Preisschild. Denn das ist es, was dieses System, in dem wir existieren, auszeichnet: Alles ist verwertbar und alles hat (s)einen Preis, auch menschliches Leben. „Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben“ heißt nichts anders, als sich daran zu gewöhnen, eventuell für die Wirtschaft sterben zu müssen. Willkommen im Corona-Kapitalismus.
Foto: Robert Fietzke