27. April 2023
Die Lage für die Menschen in Afghanistan wird immer prekärer. Es herrscht eine massive humanitäre Krise, die Weltöffentlichkeit schaut weg und Programme, die Schutzsuchenden eine Aufnahme in Deutschland garantieren sollen, laufen nicht. Über das Bundesaufnahmeprogramm (BAP) sollten monatlich 1000 gefährdete Afghan:innen aufgenommen werden. Am 17. Oktober 2022 trat es endlich in Kraft, seit Kurzem liegt es wieder auf Eis, denn die deutsche Regierung erteilte aufgrund angeblicher Missbrauchshinweise einen Aufnahmestopp. Aufgenommen wurde im Rahmen dieses Programms bisher niemand. Auch das Ortskräfteverfahren existiert im Grunde nur noch in der Theorie: die Anträge ehemaliger Arbeitnehmer:innen, die Deutschland vor der Machtübernahme der Taliban entwicklungspolitsch unterstützt haben, werden überwiegend abgelehnt oder nicht behandelt. Axel Steier sieht darin ein Kalkül der Bundesregierung, um die legale Migration weitestgehend zu unterdrücken. Im Gespräch berichtet er über die aktuelle Situation der Menschen in Afghanistan, beschreibt das Unvermögen der genannten Programme und Verfahren und erzählt, warum es trotz allem noch Hoffnung gibt.
Axel, unser letztes Gespräch fand im Oktober 2022 statt. Damals startete gerade das Bundesaufnahmeprogramm für Afghan:innen. Nun wurde es aufgrund von Missbrauchsvorwürfen vorübergehend ausgesetzt. Habt ihr Informationen darüber, was nun mit den Menschen passiert, die Anträge gestellt und eine Zusage bekommen haben?
Vielleicht muss ich so anfangen: Das BAP sollte im letzten Jahr starten und es fing damit an, dass wir als NGO die Fälle in eine Software der Bundesregierung eingetragen haben. Einige dieser Menschen bekamen auch schon eine Rückmeldung von der Regierung, wo unter anderem nach weiteren Unterlagen gefragt wurde. Aber ausreisen konnte bisher niemand. Das heißt, es gibt bisher noch kein einziges Visum im Rahmen des BAP. Was es schon gab, sind Zusagen auf Anträge, die im Rahmen eines Brückenprogramms gestellt wurden.
Für das Ortskräfteverfahren hingegen gibt es kaum Zusagen. Das ist auch die zentrale Kritik an diesen Programmen, dass die Ortskräfte praktisch den Taliban überlassen werden und man sich stattdessen wenige andere sucht, die man vielleicht aufnehmen wird. Und zu allem Übel kam jetzt noch hinzu, dass aufgrund von angeblichem Hinweisen auf Missbrauch Einzelner das Visaverfahren des BAP ausgesetzt wurde. Das heißt, Menschen mit einer Aufnahmezusage können nicht mehr in eine deutsche Botschaft gehen, um dort ein Visum zu bekommen. Sie sitzen in afghanischen Nachbarländern fest. Es sieht ganz danach aus, als geht es der Bundesregierung in erster Linie darum, die Wege legaler Migration zu behindern, sodass möglichst wenige Menschen nach Deutschland kommen.
Du hast eben die Missbrauchsvorwürfe erwähnt. Wenn man danach recherchiert, klingt das alles ziemlich vage. Glaubst du, dass diese Vorwürfe nur ein Vorwand sind?
Ich glaube, dabei handelt es sich im Wesentlichen um einen Vorwand. Die Hinweise wurden von einem rechten Medium gestreut, dem Cicero. Von diesen Vorwürfen hat sich nichts Haltbares ergeben, außer dass eine Familie eine Nichte als ihre Tochter ausgegeben haben soll. Wobei fraglich ist, ob das so verwerflich ist. Denn wir wissen ja, dass in Afghanistan Frauen praktisch zu Hause eingesperrt sind. Es geht hier nicht um Jux und Tollerei, sondern um Leben und Tod und um das Recht von Frauen. Von daher wäre es meiner Meinung nach verständlich, wenn diese Familie tatsächlich so agierte. Zumal das BAP erst anlief und über dieses Programm noch niemand aufgenommen wurde. In diesem Rahmen gibt es also sowieso keine Hinweise auf Missbrauch. Die Missbrauchsvorwürfe betreffen nur das bereits abgeschlossene Brückenprogramm und auch da hat sich nichts erhärtet.
Habt ihr Informationen dazu, wann das BAP wieder aufgenommen werden soll?
Vom Hörensagen habe ich gehört, dass im Juni die Visaverfahren wieder aufgenommen werden sollen. Aber ob das wirklich zutrifft oder nicht, wissen wir nicht. Es gibt keine offiziellen Informationen. Wir wissen nur, dass den Menschen, die jetzt mit einer Aufnahmezusage aus vorhergehenden Programmen im Iran sind, nun mitgeteilt wurde, dass sie im Iran keine deutschen Visa bekommen werden. Sie sollen stattdessen irgendwann nach Pakistan reisen und dort in die Botschaft gehen. In Pakistan sind die Visa jedoch wesentlich teurer, weil viel Schmiergeld genommen wird.
Das Problem ist, die Leute werden jetzt obdachlos. Sie haben Haus und Hof verkauft, um in den Iran fliehen zu können und ihnen fehlt jetzt das Geld, um weiter nach Pakistan zu gelangen oder langfristig im Iran zu überleben. Das sind massive Probleme, die es so nicht gegeben hätte, wenn die Bundesregierung einfach ihr Prozedere, was sowie schon langsam ist, fortgeführt hätte. Man muss auch klar sagen, dass Menschen diese gesamten Programme ‒ also Ortskräfteverfahren, Bundesaufnahmeprogramm und Brückenprogramm ‒ eigentlich nur durchstehen können, wenn sie über finanzielle Möglichkeiten verfügen. Menschen, die zum Beispiel für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) für einen Hungerlohn gearbeitet haben, sind praktisch auch finanziell davon ausgeschlossen fliehen zu können.
Laut den Vereinten Nationen sind über die Hälfte der 43 Millionen Einwohner:innen in Afghanistan auf Unterstützung angewiesen um überleben zu können. Vor diesem Hintergrund solche Reisen zu erwarten und die Visa zu bezahlen, ist sowieso schon weit weg von der Realität dieser Menschen. Und diejenigen, die nun im Iran oder in einem anderen Nachbarland festsitzen, können ja nicht einfach wieder zurück nach Afghanistan…
Es ist prinzipiell für Afghan:innen in den Nachbarländern lebensgefährlich abgeschoben zu werden. Das trifft auf die Türkei zu, die im letzten Jahr über 60.000 Menschen nach Afghanistan abgeschoben hat. Das trifft auf den Iran zu, der nach Afghanistan abschiebt und es trifft auf Pakistan zu, wo wahllos Leute eingesperrt und nur gegen Geld wieder freigelassen werden.
Was bezweckt die Bundesregierung deiner Meinung nach mit der kontinuierlichen Behinderung der Aufnahmeprogramme bzw. aktuell mit dem Visa-Stopp für Afghan:innen?
Ich glaube, das große Ziel der Bundesregierung dahinter ist, dass man möglichst wenige afghanische Geflüchtete auf legalem Weg nach Deutschland lassen möchte. Stattdessen setzt man auf eine Art Auslese durch illegale Migration. Da sich nur wenige Menschen einen Schleuser leisten können, wären die Zahlen durch illegale Migration insgesamt niedriger, als wenn man legale Migration zuließe. Ich denke, das ist das Kalkül des Innenministeriums, welches bereits unter Horst Seehofer deutlich machte, dass Geflüchtete nicht gewollt sind ‒ und es sind noch immer die gleichen Leute, die dort arbeiten.
Lass uns nochmal auf die Ortskräfte zu sprechen kommen. Die ehemaligen Arbeitnehmer:innen der deutschen Regierung und des Militärs haben das Recht nach Deutschland zu kommen, so steht es auch auf der Webseite des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Dort steht auch, dass seit 2021 über 2400 ehemalige Ortskräfte nach Deutschland eingereist sind. Ich weiß aber von dir Axel, dass noch viele Ortskräfte weiterhin in Afghanistan ausharren. In unserem Gespräch im Oktober erwähntest du, dass etwa 35.000 Ortskräfte plus ihre Familien bisher keine Aufnahmezusage erhalten haben. Hat sich da in den letzten Monaten irgendetwas getan?
Es ist restriktiver geworden. Das heißt, es wird noch restriktiver ausgelegt, wer für Deutschland entwicklungspolitische Arbeit geleistet hat. Entweder wird mit verschiedenen Methoden geleugnet, dass diese Menschen für uns gearbeitet haben oder ihre Fälle werden einfach nicht behandelt. Ein Beispiel dafür betrifft Menschen, die im sogenannten PCP-Projekt (Police Cooperation Project) Polizist:innen im Bereich Menschenrechte sowie Lesen, Schreiben und Rechnen ausgebildet haben. Sie werden nun als Werkvertragsnehmer tituliert und mit dieser Begründung abgelehnt. Eine andere Methode, die immer wieder genutzt wird, ist die Behauptung, die Betroffenen könnten nicht nachweisen, dass sie aufgrund ihrer Tätigkeit als ehemalige Ortskraft gefährdet sind. Einen solchen Nachweis zu erbringen ist jedoch schwierig, solange man nicht erschossen wurde oder von den Taliban nachweislich aufgrund der Tätigkeit für Deutschland gefoltert wurde. Das gibt dem BMZ jede Möglichkeit die Anträge abzulehnen. Folglich sind noch immer ca. 30.000 bis 35.000 Ortskräfte in Afghanistan, die mehrheitlich nicht aufgenommen werden sollen.
Wenn man das große Ganze betrachtet, wird eine Abwehrhaltung der Bundesregierung gegenüber Menschen deutlich, für die man eine Verantwortung trägt.
Mit dem BAP, worüber man 1000 Hilfesuchende pro Monat aufnehmen will, versucht man die Öffentlichkeit darüber hinwegzutäuschen, dass diejenigen, für die man eigentlich eine juristische Verantwortung hat ‒ nämlich Schutzpflichten als Arbeitgeberin oder Arbeitgeber – abgelehnt werden. In Wirklichkeit reduziert man die Gesamtzahl der Aufzunehmenden durch dieses Programm um ein Vielfaches.
Hinzu kommt, dass seit Beginn des Programms noch nicht einmal diese 1000 Menschen pro Monat aufgenommen wurden, sondern niemand.
Aktuell werden die Menschen aus dem Brückenprogramm mitgerechnet und auf dieser Grundlage behauptet, man hätte jeden Monat 1000 Zusagen erteilt. Aber in Wirklichkeit gab es aus dem BAP bislang keine Zusagen und bei dem Ortskräfteverfahren sind die Zusagen zum Teil bis auf null monatlich gesunken. Wenn man das große Ganze betrachtet, wird eine Abwehrhaltung der Bundesregierung gegenüber Menschen deutlich, für die man eine Verantwortung trägt. Verantwortlich ist unter anderem Svenja Schulze, Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Ich sehe auch Nancy Faser, Ministerin für Inneres und Heimat, in Verantwortung, indem sie weiter auf die alten Seehofer-Leute in ihrem Ministerium setzt, die nach wie vor Flüchtlingsabwehr betreiben.
Ihr steht nach wie vor mit einigen Ortskräften in Kontakt. Wie könnt ihr den Menschen trotz dieser Abwehrhaltung durch die Regierung und den schlimmen Umständen, in denen sich die Menschen befinden, weiterhin helfen?
Ein paar wenigen können wir mit Lebensmittelpaketen helfen und Geld senden und wir haben nach wie vor unsere Safe Houses, wo wir ein paar Menschen unterbringen können. Es ist wichtig, dass wir das machen und von unseren Spender:innen dabei unterstützt werden, denn so können wir tatsächlich einzelne Menschen retten. Aber das Gesamtbild zeigt, dass die Menschen aufgeben und durch die Verfolgungssituation psychisch krank werden. Alle paar Wochen müssen sie das Versteck wechseln. Manche werden gefunden, gefangengenommen und gefoltert. Es werden Geschwister und Eltern ermordet.
Wir sehen Menschen, die sich nie wieder bei uns melden und von denen wir ausgehen müssen, dass sie umgebracht wurden.
Wir wissen von mehreren Todesurteilen, die letzten Sommer gefällt wurden und wir helfen, indem wir den Menschen Geld senden, damit sie sich verstecken können. Es ist auch so, dass niemand eine zum Tode verurteilte Person verstecken will, weil das Schicksal derer, die das Versteck zur Verfügung stellen, damit ebenfalls besiegelt ist. Daher ist es sehr teuer diese Menschen am Leben zu halten. Während wir einer Familie normalerweise mit 100 Euro pro Monat das Überleben in Afghanistan sichern können, brauchen solche mit einem Todesurteil 500 Euro ‒ allein um die Miete mit Risikoaufschlag und Essen bezahlen zu können. Insgesamt ist es eine extreme Situation für die Menschen vor Ort, aber auch für unsere Mitarbeiter:innen, die die ganze Zeit mit den Menschen in Kontakt stehen.
Du stehst auch selbst mit einigen Ortskräften in Kontakt, oder?
Genau, ich pflege auch Kontakte. Es ist bei mir intermittierend, je nachdem wie ich Zeit habe. Aber ich gebe mir Mühe jeden Tag ein paar Stunden darauf zu verwenden. Und wenn dann solche Nachrichten kommen wie, dass das BAP ausgesetzt wird oder die Menschen Ablehnungsschreiben vom Ministerium erhalten, macht das ja was mit den Menschen. Ihre letzte Hoffnung wird zerstört. Das sind Momente, in denen wir versuchen müssen zu schauen, welche Alternativen noch bleiben. Wir können vor Gericht gehen, aber die Gerichte sind eher staatsnah und schließen sich meistens den Aussagen des Ministeriums an. Da ist also nicht viel zu erwarten. Nichtsdestotrotz müssen wir irgendwie schauen, dass die Menschen am Leben bleiben und überlegen, was wir noch tun können. Wobei sich das im Moment aber eben im Wesentlichen auf die Lebensmittellieferung beschränkt.
Also hat sich seit unserem letzten Gespräch eigentlich gar nichts getan, was den Menschen in Afghanistan hilft, sondern die Situation ist eher noch schlimmer geworden?
Genau und die Taliban sind auch nicht mehr im Blickfeld der Öffentlichkeit! Es passieren jetzt noch viel schlimmere Dinge als am Anfang. Die Öffentlichkeit schaut weg und daher kann sich die Bundesregierung erlauben Ortskräfte abzulehnen und das BAP auszusetzen. In Afghanistan regieren Hunger, Elend und Terror. Entweder die Menschen werden vom Hunger getötet oder sie werden früher oder später von den Taliban getötet. Das blüht denjenigen, die es mit den Westlern zu tun hatten. Wenn man diese Menschen nicht rausholt, verurteilt man sie zum Tode. Deswegen muss man ganz klar sagen: Svenja Schulze ist dran beteiligt, dass diese Menschen dort sterben. Sie lächelt zwar immer lieb in die Kamera und macht einen auf feministische Entwicklungspolitik, aber wenn man die Maske runterzieht, sieht man eine Todesfratze. Diese Frau ist eine Mördergehilfin.
Es fällt schwer, abschließend irgendetwas Positives aus der ganzen Sache zu ziehen, weil es einfach so tragisch ist… Hast du etwas, was du zum Abschluss noch ergänzen möchtest?
Es gibt schon auch positive Dinge. Auch wenn wir nicht allen helfen können, können wir doch einige Menschen am Leben erhalten und vor dem Tod bewahren ‒ und es ist wichtig, dass wir das tun, denn es geht um einzelne Menschen. Mit einem kleinen Lebensmittelpaket oder mit 500 Euro können wir eine Frau verstecken und am Leben erhalten. Es gibt also Hoffnung und man kann sich daran beteiligen. Es ist wichtig, dass wir es nicht so machen, wie es die Weltöffentlichkeit macht, nämlich einfach zur nächsten Krise zu springen und einen Haken hinter die noch laufenden Krisen zu machen. Wir machen keinen Haken, sondern wir bleiben dran und versuchen so viele Menschen wie möglich zu retten. Das ist positiv.
Das Gespräch führte Kathi Happel
Foto: Markus Weinberg