22. März 2022
Kolumne von Özge
Es gibt einen Glaubenssatz, der für Menschen, die im Internet politisch aktiv sind, wie ein ungeschriebenes Gesetz über allem steht: wer schweigt, stimmt zu. Geboren aus den wichtigen Debatten um gesellschaftliche Macht und die Nutzung ungleich verteilter Privilegien, geschliffen in Social-Media-Kampagnen und Meinungsbeiträgen, sozusagen der Motor des politischen Influencertums. Schweigen ist Zustimmung, und wer zustimmt, macht sich mitschuldig. Äußerungen zum Tagesgeschehen werden vom Publikum völlig selbstverständlich erwartet und, bei Ausbleiben, eingefordert.
Was aber, wenn das Tagesgeschehen die eigenen Kapazitäten übersteigt? Ich kenne alle Seiten des Trauerspiels, das dann folgt, denn ich fand mich in der Vergangenheit schon in allen Rollen wieder, die es zu bieten hat, und wie so oft fühlt sich bis auf das Publikum niemand wirklich wohl in seiner Haut.
Man hat sich den Ablauf folgendermaßen vorzustellen. Ein Ereignis von großer Tragweite tritt ein. Während unser überforderter Influencer noch versucht, sich ein Bild von der Lage zu machen, überschlagen sich auf den diversen Plattformen schon die Statements und Aufrufe und Infoslides und Einordnungen. Das Publikum bemerkt an diesem Punkt noch nicht, dass unser Influencer schweigt, dieser versteht das allerdings nicht, hält er sich doch naturgemäß für den Nabel der Welt.
Es herrscht nun bei jenen anderen, die sich schon geäußert haben, das Gefühl, nicht zahlreich genug zu sein. Dann tritt die zweite Phase ein, die Wo-bleibt-der-Aufschrei-Phase. Es werden scharfzüngige Vorwürfe formuliert, der Adressat ein geheimnisvolles „Ihr“, ein Haufen unmoralischer, heuchlerischer, opportunistischer, ignoranter, alles in allem schlechter Menschen, von denen keiner jemals beim Namen genannt wird. Die Wut ist die gerechte, aufrichtig empfundene Wut der Anständigen, auch wenn sie gerne als Profilierungssucht und ähnliches diffamiert wird, und natürlich ist sie auch selbstdarstellerisch, willkommen im Internet.
Unser Influencer fühlt sich angesprochen. Inzwischen trudeln auch die ersten Nachrichten ein, in denen er direkt aufgefordert wird, sich zu äußern. Und er tut es. Denn Schweigen ist schließlich Zustimmung. Was aber kommt dabei heraus?
Unter Druck entstehen Diamanten, sagen die sprechenden Slim-Fit-Anzüge, die sich „Businesscoach“ und ähnliches nennen, und wie für die meisten ihrer Binsenweisheiten gilt auch hier, dass das Gegenteil der Fall ist. Unter Druck entsteht nichts als Unsinn und entsprechend lesen sich dann auch die Beiträge. Ich weiß das, denn ich war oft genug ihre Autorin.
Man kann nicht nicht kommunizieren, stellte der Philosoph und Psychologe Paul Watzlawick fest. Zu seiner Verteidigung muss gesagt werden, dass er diese Regel weit vor dem Internetzeitalter aufgestellt hat. Die aktualisierte Fassung muss heißen: man kann durchaus auch einfach mal nicht kommunizieren, und das Publikum muss sich daran gewöhnen, das zuzulassen. Wenn uns viele Menschen zuhören, müssen wir lernen, uns unsererseits Zeit zum Lesen und Lernen und Zuhören zu nehmen, bevor wir selbst etwas beitragen. Wenn wir von denen, denen viele Menschen zuhören, informierte und sinnvolle Beiträge lesen wollen, müssen wir lernen, ihnen diese Zeit zu geben.
Wer schweigt, stimmt vielleicht zu. Vielleicht liest er aber auch gerade nach, worum es eigentlich geht.
Foto: Timo Schlüter