04. August 2022
Kolumne von Ruprecht Polenz
Heute vor 155 Tagen überfiel Russland die Ukraine. Seitdem sterben Tag für Tag hunderte von Menschen – Zivilisten und Soldat:innen. Wie lange noch? Wann hört das endlich auf? Wie kommt man zu Frieden?
Das einfachste: die Ukraine ergibt sich und legt die Waffen nieder. Es gibt keinen Krieg, wenn der Angegriffene sich nicht verteidigt und der Aggressor bekommt, was er will. Ob das Sterben und Leiden aufhören würde, steht freilich auf einem anderen Blatt, wie man in den von Russland eroberten Gebieten der Ukraine sehen kann. Zu den willkürlichen Tötungen kommen die „Filtrationslager“ mit ihren Verhören, in denen alle Ukrainer:innen zum Nazi gestempelt werden, die sich nicht als Russ:innen fühlen. Denen droht Deportation nach Sibirien.
Ein Sieg-Frieden für Putin wäre die Vorstufe künftiger Kriege
Ein Sieg-Frieden für Putin würde die Auslöschung des ukrainischen Volkes bedeuten und ein Ende der Ukraine als souveräner Staat. Über kurz oder lang würde Putin andere Staaten angreifen, von denen er meint, dass sie eigentlich zu Russland gehörten: Moldau und Georgien, vielleicht Kasachstan. Der frühere russische Präsident Medwedew hat jetzt in einem Post auf einer russischen Internet-Plattform klar gemacht, wie er sich ein großrussisches Imperium vorstellt.
Ein Sieg-Frieden für Putin wäre also kein wirklicher Frieden, sondern nur die Vorstufe künftiger Kriege.
Ein Staat mit Nuklearwaffen wird nicht bedingungslos kapitulieren
Weil Putin ein Kriegsverbrecher ist, der schamlos lügt und Zusagen bricht, könne man mit ihm keinen Frieden aushandeln. Schließlich habe man sich mit den Nazis 1945 auch nicht an einen Tisch gesetzt. So sehr man diesem Gedanken emotional zustimmen möchte, so wenig sollte man übersehen, dass ein entscheidender Unterschied besteht: Die Alliierten konnten von Nazideutschland eine bedingungslose Kapitulation verlangen, weil es keine Nuklearwaffen hatte.
Dauerhafter Frieden nur, wenn Putin nicht gewinnt
Zu einem dauerhaften Frieden kann man trotzdem nur kommen, wenn Putin nicht gewinnt. Die Aggression darf sich am Ende für ihn nicht gelohnt haben. Das betrifft die Landgewinne seit dem 24. Februar; das betrifft aber auch die 2014 von ihm annektierte Krim und den Donbas.
Ob es am Ende gelingt, dass sich die russischen Truppen auf die Linien vom 23. Februar zurückziehen, dass sie also die Ukraine wieder verlassen, hängt von zwei Faktoren ab. Zum einen von der Fähigkeit der Ukraine, den militärischen Widerstand durchzuhalten und möglichst zu verstärken. Zum zweiten von den Wirkungen der Sanktionen, die Russlands Wirtschaft empfindlich treffen.
Vor allem eine fortdauernde Wirkung der Sanktionen wird entscheidend dafür sein, ob sich für Krim und Donbas politische Prozesse organisieren lassen, die es möglich machen, die vollständige territoriale Integrität der Ukraine wieder herzustellen.
Erst wenn Putin einsieht, dass Russland unter dem Strich durch seinen imperialistischen Kurs an Einfluss verliert, weil es durch die Sanktionen nachhaltig geschwächt wird, wird er Verhandlungen zustimmen. Von seiner Entscheidung hängt es in erster Linie ab, ob es zu ernsthaften Verhandlungen kommt. Solange in Russland der Traum vom großen Sieg geträumt wird, wird er nicht dazu bereit sein.
Damit dieser Traum endet, muss die militärische und gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit der Ukraine durch Waffenlieferungen und sonstige Hilfen gestärkt werden. Die Ukraine muss am Tag X eine möglichst starke Verhandlungsposition haben, damit sie eine Chance hat, ihre Ziele am Verhandlungstisch erreichen zu können.
Auch unsere Durchhaltefähigkeit ist gefordert
„Ein Winter ohne warmes Hallenbad: Dieses Opfer mögen die Deutschen ihrem neuen ‘Brudervolk‘ vielleicht noch bringen. Aber die Zerrüttung ihrer sozialen Verhältnisse?“ fragt Jakob Augstein so zynisch wie rhetorisch im Freitag.
Aber es liegt an uns, ob wir dem imperialen Russland gemeinsam trotzen, oder ob wir uns von Putin und seinen Propagandisten bei uns auseinander dividieren lassen. Wie es mittelfristig um unsere sozialen Verhältnisse aussehen würde, wenn Putin gewinnt und sein Imperium weiter ausdehnt, möchte ich mir lieber nicht ausmalen.
Foto: Kai-Uwe Heinrich TSP