Westlinke Doppelmoral

Westlinke Doppelmoral

12. April 2022

Kolumne von Michael Bittner

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine wirft einen riesigen Schatten. Dieses Dunkel nutzen derzeit allerlei sonstige Banditen, um ihre gewöhnlichen Verbrechen zu begehen, ohne größere Aufmerksamkeit zu wecken. Der Möchtegernsultan Recep Tayyip Erdoğan hat soeben nicht nur dafür gesorgt, dass Osman Kavala, ein Unterstützer der türkischen Demokratiebewegung, den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen muss. Erdoğan hat auch seine Truppen, wie früher schon in Syrien, ins Nachbarland Irak einmarschieren lassen, um dort feindliche Kurden zu bekämpfen. Die Proteste aus dem Westen gegen solche Rechtsbrüche sind sehr leise und bleiben ohne praktische Konsequenz. Denn die Türkei ist, Diktatur hin oder her, nun einmal ein „NATO-Partner“ und überdies bei der Abwehr von Flüchtenden der wichtigste Türsteher der Europäischen Union.

So weit, so bekannt, so ekelhaft. Doch der an sich völlig richtige Hinweis auf die Doppelstandards des Westens ertönt gerade besonders laut aus den Hälsen jener seltsamen Linken, die damit ablenken wollen von ihrer eigenen Doppelmoral: Während sie nie auf die Idee kämen, den Kurden oder anderen, von Aggression, Unterdrückung und Kolonialismus betroffenen Menschen das Recht abzusprechen, sich im Notfall auch gewaltsam zu wehren, denunzieren sie die Ukrainer, die sich partout nicht von Russland erobern lassen wollen, als die wahren Hindernisse auf dem Weg zum Frieden. Denn die neueste Maxime des deutschen „Pazifismus“ lautet: Es gäbe überhaupt keine Kriege mehr, würden sich die Angegriffenen nicht immer so rücksichtslos wehren. Beugt euch einfach dem Aggressor und erhaltet so den Frieden! So jedenfalls werden die Ukrainer belehrt, deren Mehrheit den unverzeihlichen Wunsch hat, in Frieden, aber nicht in einem Vasallenstaat Putins zu leben.

Unter Rechten herrscht seit jeher die Ansicht, dass nur Außenpolitik, letztlich also der kriegerische Kampf ums Dasein, wahre Politik sei, alles andere hingegen Gedöns. Linke, die sich vornehmlich mit „Geostrategie“ beschäftigen, waren mir deswegen schon immer suspekt. Das Denken in Völkern, Staaten und Machtblöcken ist eine ganz gute Möglichkeit, sich das konkrete Leid der Leute vom Leib zu halten. Man schiebt Figürchen auf dem Schachbrett der internationalen Politik hin und her und vergisst irgendwann, dass es wirkliche Bauern sind, die sterben müssen. Ganz besonders schlau kommen sich diese Geostrategen vor, wenn sie wieder einmal entdecken, dass hinter Rufen nach Völkerrecht und Menschenrechten ja doch nur materielle Interessen stecken. Irgendwann haben sie das so oft entdeckt, dass sie – ganz in Übereinstimmung mit rechten Denkern wie Carl Schmitt – die Meinung annehmen, universelle Menschenrechte seien überhaupt nur Humbug. Statt den nationalen Egoismus zu kritisieren, nicken sie ihn nun kaltschnäuzig ab. Dazu passt es, dass derzeit einstmals entschiedene Gegner des Nationalismus plötzlich tönen, „wir Deutschen“ sollten „uns“ aus dem Krieg heraushalten! Als wäre nicht jeder Abwehrkampf gegen einen faschistischen Aggressor überall auf der Welt auch unser Kampf.

Hätte Politik wirklich gar nichts mit Moral, sondern immer nur mit Interessen zu tun, dann gäbe es keine linke, ja nicht einmal eine humanistische Politik, die immer auch für die Rechte der anderen kämpft. Es wäre trostlos und keiner Rede mehr wert. Glücklicherweise gibt es Gegenbeispiele: So haben sich im 20. Jahrhundert unzählige Menschen ohne jedes Eigeninteresse freiwillig gemeldet, um Europa vom Faschismus zu befreien. Aber halt! Sie taten es mit der Waffe in der Hand. Wir müssen sie also wohl doch als Kriegstreiber tadeln.

Foto: Amac Garbe

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