02. Mai 2021
Kolumne von Ruprecht Polenz
Von Quer“denker:innen“ skandiert, ist der Ruf „Wir sind das Volk“ eine Verhöhnung der Mutigen in der DDR und blanke Anmaßung gegenüber unserer repräsentativen Demokratie.
Das Wort Demokratie kommt aus dem Griechischen. Demos heißt Volk und kratein bedeutet herrschen. Demokratie ist also Volksherrschaft. Aber wer ist das Volk? Und vor allem: wie soll es herrschen?
„Wir sind das Volk.“ Das war der revolutionäre Ruf gegen die diktatorische SED 1989 in Leipzig und vielen anderen Städten der DDR. Die SED hatte Jahrzehnte lang in Anspruch genommen, durch geschichtliche Gesetzmäßigkeiten legitimiert zu sein, für das Volk der DDR zu sprechen. Unfreie „Wahlen“ dienten ihr als scheindemokratische Beglaubigung.
Die Geschichte wird auf den Kopf gestellt, wenn dieser Ruf heute gegen unsere Demokratie missbraucht und gegen frei gewählte Abgeordnete gerichtet wird. Von Quer“denker:innen“ skandiert, ist der Ruf „Wir sind das Volk“ eine Verhöhnung der Mutigen in der DDR und blanke Anmaßung gegenüber unserer repräsentativen Demokratie.
Gretchenfrage der Demokratie
Nun sag, wie hast du‘s mit der Basis? Das ist in der Tat die Gretchenfrage der Demokratie. Und gleich zu Beginn der Antworten scheiden sich die Demokrat:innen auf der einen Seite von denen, für die Demokratie nur Chamouflage ist, um eigene Machtanspüche gefällig einzukleiden. Die weiße Kreide auf den Wolfsfüßen, um die Ahnungslosen zu übertölpeln.
Das „wahre Volk“ sei die Basis, tönen seit Mussolini alle Gaulands dieser Welt. Alsdann bestimmen sie, wer zu diesem Volk dazu gehört. Und vor allem, wer nicht. Nur die Geburt soll zählen, nicht die Staatsangehörigkeit. Diesem so definierten Volk steht. scharf getrennt, ein „Establishment“ gegenüber, zu dem alle gezählt werden, die nicht der eigenen Volks-Bewegung angehören. CDUCSUSPDGRÜNELINKEFDP – alles in einen Topf, alles dasselbe. Dieses „Establishment“ hat sich von der Basis, dem „wahren Volk“ entfernt und agiert gegen dessen „wahre Interessen“.
Woher die Gaulands das wissen? Ganz einfach. Nur sie erkennen und verkörpern den wahren Volkswillen, auch wenn sie nur von 10 Prozent gewählt werden. Dass nicht jede:r das verstehen will, liegt an der Mainstream- oder „Lügenpresse“, die auch zum „Establishment“ gehört und es deshalb verteidigt. Auch hier alles dasselbe: DLFWeltTAZZeitFAZSpiegelARDFocusZDFCicero.
Faschisten brauchen ihre mit einem „Demokratie“-Aufdruck gefälschten Münzen, um sich in die Welt der Demokrat:innen einzukaufen. Aber deren Währung ginge kaputt, wenn mit diesem Gedankengut bezahlt werden dürfte.
Demokratie heißt Herrschaftskontrolle
Auch unter Demokrat:innen streitet man sich seit der Antike darüber, wie der Volkswille ambesten zur Geltung gebracht werden könne: direkt – oder repräsentativ durch gewählte Vertreter:innen. Es gibt nur diese beiden Möglichkeiten, um eine Entscheidung demokratisch zu legitimieren.
Von Demokratie wird allerdings noch mehr verlangt als Partizipation und die Legitimierungvon Entscheidungen. Es geht vor allem auch um die Kontrolle von Herrschaft. Denn Macht tendiert immer zum Missbrauch.
Hier liegt die Schwäche direkt-demokratischer Vorstellungen. Die Jakobiner nutzten Räte für ihre Schreckensherrschaft in der Französischen Revolution. Die Bolschewiki errichteten Räte zur Machtergreifung in Russland nach der Novemberrevolution. Die Tea-Party-Bewegung in den USA zeigt bei den Vorwahlen, wie man direkt-demokratische Mechanismen als kleine, gut organisierte Gruppe ausnutzen kann, um eine ganze Partei zu übernehmen.
Als System begünstigt direkte Demokratie eine Radikalisierung und wird von entschlossenen Gruppen auch genau dazu benutzt. Es ist also kein Wunder, dass wir auf der Welt keine freiheitlichen Gesellschaften finden, die ausschließlich direkt-demokratisch organisiert sind.
Aber was ist mit der Schweiz? Sie ist zweifellos eine Demokratie. Dort entscheiden die Bürger:innen über viele Fragen direkt in Volksabstimmungen. Das Schweizer Modell mischt repräsentative mit direkten Elementen. Oft übersehene Kehrseite der Volksabstimmungen ist eine Allparteien-Regierung ohne wirkliche Opposition im Parlament. Eine Bundesregierung von AfD bis Linkspartei – der Preis wäre mir zu hoch.
Kompromisse halten die Gesellschaft zusammen
Die repräsentative Demokratie will Partizipation ermöglichen und gleichzeitig eine Radikalisierung vermeiden, die sie wegen der emotionalen Seite des Menschen bei direkter Demokratie befürchtet. „Erst mal eine Nacht drüber schlafen“ – dieser gute Rat für persönliche Reaktionen auf aufwühlende Ereignisse ist eines ihrer Strukturprinzipien.
Repräsentative Demokratien schwächen zwar den unmittelbaren Einfluss der Staatsbürger:innen auf die Entscheidungen ab. Aber durch Gewaltenteilung zwischen Regierung, Parlament und Justiz gelingt die Herrschaftskontrolle.
Ein weiterer Grund, weshalb sich die repräsentative Demokratie durchgesetzt hat, liegt darin, dass sie besser geeignet ist, Gesellschaften durch Kompromisse zusammenzuhalten. Volksabstimmungen reduzieren komplexe Probleme auf eine Ja/Nein-Entscheidung. Für vermittelnde Ergebnisse, in denen sich große Teile beider Seiten wiederfinden könnten, ist kein Platz.
Wahrscheinlich kommt es auf die Dosierung an. Bürgerentscheide auf kommunaler Ebene können eine sinnvolle Ergänzung sein zu den repräsentativen Entscheidungen im Stadtrat.
Bürgerräte können, losgelöst von kurzfristigen Wiederwahl-Interessen, langfristige Perspektiven von den Parlamenten einfordern.
Das Wiederwahl-Interesse der Abgeordneten sorgt während einer Legislaturperiode für mehr als nur einen Seitenblick auf die Stimmung in der Bevölkerung. Auch in unserer repräsentativen Demokratie geht alle Macht vom Volk aus. Bei der Bundestagswahl am 26. September werden wir das wieder erleben.
Foto: Kai-Uwe Heinrich TSP