25. November 2022
Am 2. November stach die RISE ABOVE erneut ins Mittelmeer und startete damit ihre bisher sechste Mission. 95 Menschen, darunter auch Kinder, konnten bei diesem Einsatz aus Seenot gerettet werden. Jedoch war die Rettungsaktion nicht nur erfreulich, denn ganze vier Tage und fünf Nächte mussten Crew und Gäste trotz des aufkommenden Sturms auf dem Schiff ausharren, bevor sie endlich am 8. November einen Hafen in Reggio Calabria in Italien zugeordnet bekamen. Sévérine Kpoti begleitete als Fotografin die Mission und erzählt in diesem Interview, wie sie die Tage auf der RISE ABOVE empfunden hat.
Audio zum Interview
Séverine, du warst Anfang November als Fotografin mit an Bord der RISE ABOVE. Wie kam es dazu? War das dein erster Einsatz in der Seenotrettung?
Das war jetzt mein zweiter Einsatz dieser Art. Ich war im Juli bereits auf einem Seenotrettungseinsatz der Organisation r42, auf dem Segelschoner Imara. Die Imara hat ebenso wie die RISE ABOVE in Licata in Sizilien ihren Hafen und dadurch habe ich dort die Crew von Mission Lifeline kennengelernt. Und ich hatte Lust auf eine weitere Mission auf einem anderen Schiff. Einfach um nochmal etwas Neues kennenzulernen.
Kannst du kurz erzählen, wie dein Arbeitseinsatz als Fotografin an Bord der RISE ABOVE so aussah?
Es begann schon bei den Vorbereitungen, dass ich ein bisschen die Arbeit und die Trainings fotografisch dokumentiert habe. Einfach um die Außenwelt an der kompletten Mission teilhaben zu lassen. Zudem führte ich Interviews, sowohl mit Crew-Mitgliedern als auch mit Gästen an Bord. Und natürlich habe ich das Tagesgeschehen auf der RISE ABOVE dokumentiert: unsere Arbeit, die Stimmung und die Lage allgemein. Eine zentrale Aufgabe von mir war, die Rettung an sich zu dokumentieren. Dazu bin ich im RHIB mitgefahren, also in einem Beiboot, habe Fotos gemacht und mich außerdem um die GoPro-Kameras gekümmert, mit denen zusätzlich gefilmt wurde. Wir saßen acht Stunden am Stück im RHIB, um die drei überfüllten Boote ausfindig zu machen, den Menschen Rettungswesten auszuteilen und sie dann schließlich auf die RISE ABOVE an Bord zu bringen. Das war mitunter eine der anstrengendsten Aufgaben der ganzen Mission.
Und wie hast du persönlich die Lage auf der RISE ABOVE empfunden?
Es gab dort alle Hände voll zu tun. Jede einzelne Person hatte rund um die Uhr sehr viel Arbeit und viele Aufgaben. Bei mir kamen neben meiner foto- und videografischen Arbeit noch Schichten im Wachplan hinzu. Und natürlich hat man unterstützt, wo man gebraucht wurde. Beispielsweise half ich auch oft bei der Essensausgabe und war durch meine Französischkenntnisse zudem viel mit Gästen in Kontakt.
Wie war denn allgemein die Stimmung an Bord und wie ging es den Gästen?
Ganz zu Beginn waren alle erstmal super froh und euphorisch, dass sie bei uns an Bord kommen durften. Doch je länger der Aufenthalt dauerte, desto mehr schlug auch die Stimmung um. Viele konnten nicht verstehen, warum wir nicht an Land gehen konnten und es so lange dauerte. Es hat sich Verzweiflung breitgemacht. Die Menschen waren ja auch extrem erschöpft und es war kalt in der Nacht. Zum Schluss herrschte eine heikle Stimmung.
Hinzu kam ja, dass die Wettersituation nicht besonders gut war. Das hat sicherlich auch noch mit dazu beigetragen, dass die Stimmung kippte, oder?
Ja das stimmt. Wir sind in ein Unwetter geraten ‒ in eine Sturmnacht mit Gewitter, Regen und Kälte. Natürlich haben wir versucht die Menschen bestmöglich zu schützen, was allerdings nicht ganz einfach war, denn die RISE ABOVE war wirklich voll. Wir haben schließlich Frauen und Kinder mit auf die Brücke genommen, weil das der geschützteste und wärmste Bereich auf dem Schiff war. Dort waren wir dann mit 22 Personen auf dicht gedrängtem Raum, um wenigstens ein bisschen Unterschlupf gewährleisten zu können. Ansonsten gab es hinten am Achterdeck auch noch Planen, die zumindest etwas Schutz boten. Dennoch war es kalt und es zog durch. Insgesamt war das eine ungute Situation.
Was war denn für dich persönlich der eindrücklichste Moment während deines Einsatzes?
Davon gab es total viele. Angefangen mit dem Finden der Boote. Das ist ein unbeschreibliches Gefühl, wenn plötzlich am Horizont ein kleiner Punkt auftaucht und dieser Punkt sich als kleines, seeuntaugliches Boot entpuppt. Mitten auf dem Meer. Das haut einen echt erstmal um. Ansonsten gab es viele bewegende Momente. Einer davon war beispielsweise, als wir auf See auf die Humanity 1 trafen, die ebenfalls Gäste an Bord hatte und auf einen Hafen wartete. Das war sehr bewegend, weil sich die Gäste der beiden Schiffe sahen und merkten, dass sie nicht allein sind. Dass es noch andere Menschen gibt, die das gleiche Schicksal mit ihnen teilen. Sie haben sich dann zugerufen und gesungen. Für mich war das ein absoluter Gänsehautmoment. Von dem Erlebnis gibt es auch Fotos und Videos. Das war ein Moment, der unbedingt festgehalten werden musste.
Sind noch weitere Aufnahmen entstanden, die dir besonders wichtig sind ‒ beispielsweise, weil sie die Gesamtsituation oder Stimmung am besten widerspiegeln?
Ja, natürlich als wir den Hafen zugewiesen bekamen und wir das an Bord verkünden konnten. Ich glaube, das war der emotionalste Moment. Das war Gänsehaut, das waren Freudentränen und ich wurde auch schier umgeworfen vor Freude. Die Menschen tanzten und lagen sich in den Armen. Ich habe das gefilmt, musste aber die Aufnahme irgendwann aufgrund der Freudenstimmung abbrechen. Alle bedankten sich und man merkte deutlich, wie die Anspannung der letzten Tage ‒ die ganzen Zweifel und das Ungewisse ‒ von den Menschen abfiel. Das war tatsächlich ein unvergesslicher Moment und es sind auch sehr schöne Aufnahmen dabei entstanden.
Ich bekomme als Zuhörerin schon Gänsehaut, das klingt wirklich sehr bewegend. Ich stelle mir vor, dass es aber natürlich nicht nur diese schönen Momente gibt, sondern auch viele Herausforderungen während einer solchen Mission. Was war deine Herausforderung?
Meine Herausforderung war tatsächlich das Zeitmanagement: die ganzen Aufgaben zu bewerkstelligen und gleichzeitig noch Schlaf zu bekommen. Ich habe rund um die Uhr Stimmen eingefangen und Fotos gemacht ‒ und irgendwann gemerkt: „Huch, ich sollte vielleicht auch mal schlafen!“. Aber wenn man dann Zeit zum Schlafen hatte, auch zu einer Tageszeit, an der man normalerweise nicht schläft, war es nicht einfach runterzukommen. Der Adrenalinspiegel ist sehr hoch und der Kopf kommt nicht zur Ruhe. Es war daher schon eine Herausforderung ein bisschen auf sich selbst zu achten. Denn das ist ja auch wichtig, damit man fit bleibt. Eine weitere Herausforderung war, dass ich beim Fotografieren der Menschen teilweise in einem Zwiespalt war. Klar, möchte man auf der einen Seite den Ist-Zustand abbilden. Denn es sind ja auch die Bilder, die gesehen werden wollen und die Spenden generieren. Aber auf der anderen Seite will man natürlich die Persönlichkeitsrechte nicht verletzen, denn das sind auch sehr intime Momente. Da hatte ich schon ein bisschen Hemmungen.
Und wie ging es dir nach der Mission?
Ich habe mir danach extra erstmal keine wichtigen Termine vorgenommen, um ein bisschen runterzukommen und die Gedanken zu sortieren. Nach so einer Mission ist man noch sehr aufgewühlt. Was ich toll fand ist, dass wir uns als Crew am Ende noch die Zeit für ein ausführliches Debriefing genommen und auch viel geredet und uns ausgetauscht haben. Das war tatsächlich sehr wichtig.
Das ist sicherlich wichtig für die Seele. Ihr werdet bei solch einem Einsatz schließlich auch mit unschönen Aspekten konfrontiert. Würdest du wieder mit auf Mission gehen?
Ja, ich habe mir für nächstes Jahr vorgenommen, nochmal mit auf Mission zu fahren. Gerne wieder mit Mission Lifeline, gerne vielleicht auch nochmal auf einem Segelschiff. Vielleicht klappt ja auch beides.
Ich möchte dir am Ende noch die Möglichkeit geben, etwas hinzuzufügen oder loszuwerden, das dir noch besonders auf dem Herzen liegt.
Wenn ich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis erzähle, dass ich auf dieser Mission war, sind viele Leute sehr beeindruckt und sagen, sie würden sich das nie trauen. Ich antworte dann immer, dass das ja auch nicht jeder Mensch machen muss. Es gibt so viele andere Dinge, die man tun kann, um die Seenotrettung zu unterstützen! Jede:r nach den eigenen Möglichkeiten, Vorlieben oder der verfügbaren Zeit. Man sollte sich davon nicht abschrecken lassen, finde ich. Wenn man einen Beitrag leisten möchte, kann man das auf unterschiedliche Weise tun.
Das Gespräch führte Kathi Happel
Foto: Paul Günther