24. Dezember 2020
Kolumne von Matthias Meisner
So was kommt von so was, könnte man sagen. Denn womöglich sind es Begegnungen wie diese, die dem Corona-Leichtsinn in Teilen der Bevölkerung Vorschub leisten: Im Frühsommer traf Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer eine Gruppe von Virus-Relativierern zum vertraulichen Gespräch. Zweieinhalb Stunden dauerte die als „Runder Tisch“ deklarierte Begegnung. Der Finanzwissenschaftler Stefan Homburg war dabei, der Mikrobiologe Sucharit Bhakdi – und weitere vermeintliche Expertinnen und Experten, die eines eint: Verschwörungsmythen die Legitimation der Wissenschaft zu verleihen. Und die in der Coronakrise als scharfe Kritiker der staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie auftreten.
Heute ist fast der komplette Freistaat Corona-Hochrisikogebiet. Kurz vor Weihnachten lag der Inzidenzwert Sachsens bei 430 Corona-Fällen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche und damit mit Abstand höher als in allen anderen Bundesländern. Vier sächsische Landkreise – Zwickau, Bautzen, Görlitz und Mittelsachsen – führen die bundesweite Corona-Statistik an. Bis Sommer hatten offenbar zu viele geglaubt, Sachsen seien quasi immun gegen das Coronavirus. Zu Recht sagte der Leipziger Autor Michael Kraske im Frühjahr: „Die Anbiederung der CDU Sachsen an Pegida war falsch. Die Anbiederung von Kretschmer an das Milieu der Verschwörungsideologen und Corona-Leugner ist genauso falsch. Nix gelernt.“
Und trotzdem war das Setting Ende Juni: nicht mal Augenhöhe. Professoren im Dialog mit einem „Dipl. Ing. Kretschmer“ – so das von den Organisatoren am Sitzplatz des Ministerpräsidenten im Raum Hamburg der Messe Dresden aufgestellte Namensschild. Eingefädelt hatte das Treffen ein Dresdner Bildhauer. Er trug ein Porträt von Mahatma Gandhi bei sich, als er Kretschmer im Mai im Großen Garten in Dresden ansprach. Der CDU-Politiker suchte damals im Freizeitdress und ohne Mundschutz das Gespräch mit Corona-Demonstranten. Auch hier ohne Abstand zu Corona-Schwurblern.
Im Konferenzraum der Messe wurde der sächsische CDU-Spitzenpolitiker wie ein Heilsbringer empfangen. Schließlich war er der erste Regierungschef eines Bundeslandes, der zu einem Treffen mit solch einer illustren Runde von Corona-Rebellen bereit war. Der österreichische Tropenmediziner Martin Haditsch überbot sich mit Vorschusslorbeeren: Kretschmer könne „zur Trendwende“ in der Corona-Debatte beitragen, „mittelfristig zum Helden werden“. Sollte der Politiker in seiner „staatstragenden“ Funktion tatsächlich „vermitteln, dass er den Unterschied macht“, wie Haditsch formulierte? Der Arzt hoffte vor dem Treffen: „Dann haben wir vielleicht heute einen historischen Tag.“
Höflich bedankte sich Kretschmer Anfang Juli per Brief bei den Initiatoren für den „sehr interessanten“ Austausch. Er versprach, „dass die Einschränkungen auf ein absolutes Mindestmaß zurückgeführt werden“. Fügte jedoch hinzu: „Fakt ist aber: Das Virus ist nach wie vor da.“ Gemeinsame Fotos mit Kretschmer gab es nicht, die einzige Tonaufnahme des Treffens wurde gelöscht. Auch an der Raummiete will sich die Staatskanzlei nicht beteiligt haben. Aber die Initiatoren nutzten das Treffen für ihre Propaganda.
Das Problem bei Begegnungen wie der von Kretschmer mit Bhakdi, Homburg & Co.: Sie verschaffen Menschen Akzeptanz und Gehör, die in der Corona-Debatte eher als Scharlatane gelten müssen. Und es untergräbt auch die Autorität, die bei diesem Thema zwingend ist.
Im November gelang es einem mit „Querdenken“ und dem Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen vernetzten „Wildnispädagogen“ aus der vorpommerschen Provinz, Hierarchen der ARD für eine Videokonferenz zu gewinnen. Der ARD-Kritiker sprach im Zusammenhang mit der Pandemie von „Panikmache“. Sein Ziel: eine Sondersendung, bei der Experten wie Christian Drosten, Lothar Wieler und Karl Lauterbach mit ihren Widersachern wie Bhakdi und Homburg diskutieren. Die ARD ging zwar auf diese Forderung nicht ein. Sie verteidigte aber den Dialog, der „dem Gemeinwohl“ gedient habe. Kurz nach der Videokonferenz mit der ARD fand in Berlin ein sogenannter „Medienmarsch“ zu verschiedenen Zeitungshäusern von „Bild“ über „Tagesspiegel“ bis „taz“ und den Hauptstadtstudios von ARD und ZDF statt. Auch der Wildnispädagoge hatte zu diesem Corona-Protest aufgerufen, auf dem Journalistinnen und Journalisten als „Wahrheitsverdreher“ diffamiert wurden. Die „Zeit“-Journalistin Alice Bota warnt aus gutem Grund: „Indem Coronaschwurbler ,ihre‘ Experten in den seriösen Medien platzieren, gewinnen diese wiederum an Glaubwürdigkeit.“
In Sachsen wird derweil diskutiert: Gibt es eine Korrelation zwischen AfD-Hochburgen und Corona-Hotspots? Werden mehr Leute angesteckt, weil der Altersdurchschnitt der Bevölkerung höher ist im Vergleich zu anderen Bundesländern? Oder liegt es an der Grenzlage zum von der Seuche heimgesuchten Tschechien?
Nach der Verkündung von neuen Corona-Maßnahmen im Erzgebirge Anfang Dezember wüteten Bürger auf Facebook: „Die Stasi war ein Scheißdreck gegen das jetzt“, „totale Diktatur“, „Die Wende kommt und dann werden diese Verbrecher ihre gerechte Strafe bekommen.“ Einer spekulierte, Corona sei nur Ablenkungsmanöver: „Wir deutsches Volk sollen nur zu Hause bleiben, damit es nicht weiter Aufsehen gibt, wenn die ganzen Flüchtlingsströme in Deutschland reinkommen.“ Ein anderer forderte: „Volk ans Gewehr!“
So drückt sich das aus, was Raj Kollmorgen, Sozialwissenschaftler an der Hochschule Zittau/Görlitz, für ein unter enttäuschten Sachsen in Jahrzehnten entwickeltes „System- und Elitenmisstrauen“ hält. Er sagt im Interview mit „Zeit online“: „Verschwörungstheorien zur Pandemie fallen da rasch auf fruchtbaren Boden.“ Doch wie appellierte der Bürgermeister der sächsischen Stadt Augustusburg, Dirk Neubauer, neulich? „Dieses Land braucht keinen Hass, keine Verschwörungstheorien und vor allem keine vermeintlichen Querdenker, die schon am einfachsten scheitern, was Menschsein bedeutet: an Rücksichtnahme.“
Kollmorgen hält die auch von seinem Soziologen-Kollegen Matthias Quent aus Jena aufgestellte These eines Zusammenhangs zwischen hohen Corona-Infektionszahlen und hohen AfD-Wahlergebnissen für „plausibel“. Aber diese These ist halt nur die eine Seite der Ursachenforschung: Wenn sich schon die AfD als parlamentarischer Arm der „Querdenker“-Szene geriert, dürfen Politikerinnen und Politiker der demokratischen Parteien den Corona-Relativierern kein Futter geben.
Jörg Stephan, Bürgermeister von Großrückerswalde im Erzgebirgskreis, war vor ein paar Tagen in einer Suchtklinik in seiner Heimatgemeinde. Der CDU-Politiker wollte sich dort eine der Weihnachtsgänse abholen, die im Rahmen einer Arbeitstherapie in der Klinik gezüchtet werden. Er kam ohne Mund-Nasen-Bedeckung. Und wollte auch auf Aufforderung einer Mitarbeiterin keine aufsetzen. Danke für nichts, Herr Stephan. Allseits: frohe und umsichtige Weihnachten.
Foto: Dora Meisner