03. Juli 2022
Kolumne von Ruprecht Polenz
Vor 125 Tagen hat Russland die Ukraine überfallen. Putin lässt Mariupol und andere ukrainische Städte und Dörfer zerschießen und zerbomben. Er will das ukrainische Volk vernichten und den ukrainischen Staat von der Landkarte tilgen.
Putin spricht der Ukraine jede Eigenstaatlichkeit ab. Das Land sei integraler Bestandteil Russlands. Wer sich als Ukrainer:in fühle und nicht als Russe oder Russin, sei ein Nazi. Seine „militärische Sonderoperation“ diene dazu, die Ukraine zu „de-nazifizieren.
Butscha steht stellvertretend für die russischen Kriegsverbrechen an Zivilisten, genauso wie der gezielte Beschuss von Krankenhäusern, Schulen oder dem Einkaufszentrum von Krementschuk in der letzten Woche.
Tausende ukrainische Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder, sind bisher von der russischen Armee getötet worden. Auch unter den ukrainischen Streitkräften nimmt die Zahl der Gefallenen und Verwundeten zu. Jeden Tag kommen neue Opfer dazu.
Wann endlich beendet Putin diesen Krieg, den er willkürlich und ohne jede Rechtfertigung vom Zaun gebrochen hat? Wann endlich zieht Putin die russischen Streitkräfte, deren Gefallene ihm gleichgültig sind, vollständig aus der Ukraine zurück? Wann endlich stellt er die vollständige territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine wieder her?
Warum ist es für manche, die sich prominent zu Wort melden, so schwer, diese einfachen Tatsachen zu erkennen?
„Waffenstillstand jetzt!“ ist ein Appell überschrieben, mit dem „der Westen“(!!) aufgefordert wird, den russischen Krieg gegen die Ukraine durch Verhandlungen zu beenden.
Zu den Unterzeichner:innen gehören u.a. Richard David Precht (Philosoph), Jakob Augstein (Publizist), Alexander Kluge (Filmemacher und Autor), Wolfgang Merkel (Professor für Politikwissenschaft), Erich Vad (General a.D., ehemaliger Militärberater von Angela Merkel), Julian Nida-Rümelin (Philosoph), Harald Welzer (Sozialpsychologe), Ranga Yogeshwar (Wissenschaftsjournalist) und Uli Zeh (Schriftstellerin).
Nur durch die Waffenlieferungen des Westens sei die Ukraine in der Lage gewesen, sich so lange gegen die russische Übermacht zu verteidigen. Ein Sieg der Ukraine mit der Rückeroberung aller besetzten Gebiete sei aber unrealistisch, „da Russland militärisch überlegen ist und die Fähigkeit zur weiteren militärischen Eskalation besitzt.“
Die westlichen Länder müßten sich deshalb fragen, „ob (und wie lange) Waffenlieferungen weiterhin der richtige Weg sind.“ Schließlich seien die Folgen des Krieges nicht mehr auf die Ukraine begrenzt. „Seine Fortführung verursacht massive humanitäre, ökonomische und ökologische Notlagen auf der ganzen Welt.“ Nur eine zeitnahe Verhandlungslösung könne einen jahrelangen Abnutzungskrieg und eine militärische Eskalation, „die bis zum Einsatz nuklearer Waffen gehen kann,“ verhindern.
Damit Verhandlungen überhaupt möglich seien, müsse bekundet werden, „dass die westlichen Akteure kein Interesse an einer Fortführung des Krieges haben und ihre Strategien entsprechend anpassen werden.“
Das heißt mit anderen Worten, der Westen soll ankündigen, seine Waffenlieferungen an die Ukraine einstellen zu wollen. Es ist klar, dass diese Forderung eher früher als später zu einer Kapitulation der Ukraine führen würde. Es wäre Putin, der aus einer Position der Stärke „verhandeln“ und der Ukraine das Ende ihrer Staatlichkeit diktieren könnte.
Weil man das alles so deutlich nicht sagen will, ist in dem Aufruf die Rede davon, dass es keinen „Diktatfrieden“ Putins geben dürfe. Auch dürfe man nicht „etwas über den Kopf der Beteiligten hinweg entscheiden.“ Aber die Forderungen des Appells „Waffenstillstand jetzt!“ laufen genau darauf hinaus.
Warum schreibt ihr nicht an Putin, möchte man den Unterzeichner:innen zurufen. Auf ihre Antwort wäre ich gespannt.
Wer einen Diktatfrieden Putins wirklich verhindern will, muss die Verhandlungsposition der Ukraine stärken, durch Waffenlieferungen und harte Sanktionen gegen Russland.
Wenn nicht über die Köpfe der Beteiligten hinweg entschieden werden soll, muss die Ukraine selbst entscheiden, wann und unter welchen Bedingungen sie in Verhandlungen mit Russland eintreten will.
Foto: Kai-Uwe Heinrich TSP