26. August 2021
Kolumne von Matthias Meisner
Noch ein Monat bis zur Bundestagswahl. Und ich muss jetzt viele Smoothies trinken. Denn neulich habe ich das im Kühlregal bei Edeka in Berlin-Moabit entdeckt: Fruchtsaftgetränke mit Wahlprogrammen. Wow! Inhalte in diesem Wahlkampf! Echt jetzt?
Die FDP will demnach eine gesetzliche Aktienrente, um mit der Rendite aus risikoarmen Aktien die Renten zu erhöhen. Die Linke will den Rüstungsexport verbieten, Kurzstreckenflüge gleich auch, Hartz IV sowieso. Verbieten, verbieten, verbieten, ist das nicht Sache der Grünen? Die CDU will, so steht‘s auf den Flaschen, Freier bestrafen, die Sex mit schwangeren Prostituierten haben. Die Smoothie-Aktion ist ein True-oder-False-Spielchen. Manches ist also nur ausgedachtes Blabla. Und überhaupt ist alles mit der Orientierung für die Stimmabgabe nicht so einfach. Denn der grüne Smoothie war ausverkauft, auch das SPD-Programm nicht mehr zu haben. Blau oder braun wird hoffentlich erst gar nicht produziert.
Es ist aber auch zum Verzweifeln! Eine geschätzte Kollegin hat kürzlich ein paar Gedanken zum inhaltsleeren Wahlkampf notiert. Es ging um Armin Laschet, der seinen Regenschirm im Flutkatastrophengebiet so hielt, dass auf Fotos der Eindruck entstand, der CDU-Chef lasse seinen Gesprächspartner im Regen stehen. Was sie als falsch entlarvte, nachdem die sozialen Medien längst explodiert worden. Es ging in dem Text um die skandalisierten Patzer der Grünen, Plagiatsaffären, den angeblichen „Genderwahnsinn“. Aber vor allem ging um das große „Was fehlt?“ Und das ist nicht etwa die Frage, wie viel Friedrich Merz es bei einer CDU-Regierungsbeteiligung wahlweise sein darf oder sein muss. Sondern um die zentralen Themen, die eigentlich auf der Wahlkampfagenda stehen müssten: Pflegenotstand, Klimakrise, brennende Urlaubsländer am Mittelmeer. Bildung, Rente, Migration, Steuern. Was ist aus den Fehlern bei der Bekämpfung der Coronapandemie zu lernen? Alles Fragen, die im personalisierten Wettstreit zwischen Laschet, Scholz und Baerbock nur eine Nebenrolle spielen. Ein Ideen-Wettbewerb der Parteien findet praktisch nicht statt. So werden müde Wähler:innen nicht munter.
Wie schafft es Olaf Scholz, eine journalistische Boygroup bei Wahlkampf-Reisen in die Provinz um sich zu scharen, die anschließend liebedienerische Porträts des SPD-Kanzlerkandidaten in die Gazetten bringt, statt Fragen zur Rolle des Vizekanzlers im Cum-Ex- und im Wirecard-Skandal zu stellen? Warum fordern eigentlich die Grünen nicht mal etwas richtig Revolutionäres wie ein SUV-Verbot in Innenstädten, warum irritieren sie das Wahlvolk stattdessen mit Klientelpolitik pro Lastenfahrräder und Volkslied-Adaptionen? Mag niemand mehr sozial sein?
Will niemand in diesem Wahlkampf über die großen Fragen reden, über die Zukunft unseres Planeten oder wenigstens unseres Landes? Gibt es auch in Redaktionen eine Angst davor, mit radikalen Kommentaren Lesern auf den Schlips zu treten oder Leserinnen auf andere Weise zu vergrätzen? Und, nicht zuletzt: Warum lässt man Angela Merkel, Heiko Maas und anderen ihr Totalversagen in Afghanistan so durchgehen, gehört die große Koalition nicht allein schon deswegen abgewählt? Warum hat sich Merkel nicht, als sie am Mittwoch ihre Regierungserklärung im Bundestag hielt, beim afghanischen Volk entschuldigt, bei den Soldat:innen und Entwicklungshelfer:innen? Warum wurde und wird der Familiennachzug aus Afghanistan und anderen Ländern seit Jahren systematisch verschleppt?
Waren deutsche Wahlkämpfe eigentlich immer schon so frustrierend und tendenziell doof?
— Igor Levit (@igorpianist) August 24, 2021
Der Tagesspiegel-Reporter Sidney Gennies, der gerade zu einem Arbeitsaufenthalt in Florida ist, twitterte dieser Tage: „Wisst ihr noch, wie wir früher morgens aufgewacht sind, fassungslos, was Trump wieder Doofes angestellt hat? So geht mir das in den USA jetzt mit dem deutschen Wahlkampf.“ Der ARD-Journalist Gabor Halasz stellt ernüchtert fest: „Wenn wir noch Zeit für Lastenräder-Diskussionen haben, geht es uns in Deutschland sehr gut. Fürchte nur, wenn wir in diesen Grabenkämpfen verharren, geht es uns nicht mehr lange so gut.“
Immerhin: Es gibt eine neue lobenswerte Initiative namens #wAlman, mit der Deutsche mit Migrations- oder Fluchtgeschichte ermuntert werden sollen, am 26. September ihre Stimme abzugeben. Dazu gibt‘s Informationen nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Englisch, Türkisch, Russisch, Kurdisch, Arabisch und Farsi. Jetzt bitte bloß nicht Lastenfahrrad übersetzen, sondern besser Pflegenotstand oder Klimawandel. Und an alle Politiker:innen der Appell: mehr Mut, mehr Klarheit, weniger kleineres Übel. Mehr revolutionäre Gedanken. Dann klappt‘s auch mit der Wahlbeteiligung.