20. November 2022
Von Matthias Meisner
Der Blog NachDenkSeiten feierte das „Dokumenten-Leak“ eines „Whistleblowers“. Das etablierte und reichweitenstarke Parallelmedium veröffentlichte Ende September ein zehnseitiges Arbeitspapier aus dem SPD-geführten Bundesinnenministerium, in dem es darum geht, welche Maßnahmen die Bundesregierung gegen russische Desinformation im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine ergreift. Bei denen es sich indes, so die Erzählung der NachDenkSeiten, um „staatliche Propaganda- und Zensurbemühungen“ sowie den „konzertierten Versuch einer Informations-Gleichschaltung durch die Bundesregierung“ handele.
Aber ist es wirklich anstößig oder gar ein Skandal, dass sich die Bundesregierung mit den hybriden Bedrohungen aus Russland beschäftigt, erst recht nach dem Beginn eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges? Die sogenannten alternativen Medien agieren längst mittenmang bei der Kreml-Propaganda, ähnlich wie Linken-Politikerinnen wie Sahra Wagenknecht und die AfD. Ist die Empörung der NachDenkSeiten nicht scheinheilig?
Die Story des Blogs, der sich selbst als links verortet, wurde vom rechten Blogger Boris Reitschuster aufgegriffen. „Gelenkte Meinungsmache durch den Staat“, überschrieb er seinen Text über das Arbeitspapier aus dem Ministerium. Pressefreiheit in Deutschland werde damit „offiziell als Märchen entlarvt“. Reitschuster zitierte den AfD-Bundestagsabgeordneten Götz Frömming, der aus den im Papier erwähnten Kontakten einzelner Ministerien zu Leitmedien wie „Spiegel“, „Tagesspiegel“ oder „Stern“ den Schluss zog, dass Presse und Medien „vom Staat gelenkt werden“. Frömming sagte: „Man darf darauf wetten, dass Putin bei einer seiner nächsten Reden genüsslich aus diesem Geheimpapier zitieren wird.“ Der Blogger Reitschuster wiederum vermutete, dass die Bundesregierung „ebenso die Corona-Berichterstattung im direkten Kontakt mit den Medien auf Linie gebracht hat“.
Frage an alle Journalist:innen: Die „kleine machtvolle Elite“, die euch vorgibt, was ihr schreiben dürft und was nicht, meldet sich die in der Regel per Telefon, E-Mail, Slack oder direkt per Chemtrail und Telepathie?
— Paul Starzmann (@paul_starzmann) November 14, 2022
Das Märchen von den gesteuerten Medien – wer hat es erfunden? Fakt ist, schon bei den Aufmärschen von Pegida seit 2014 wurde immer wieder „Lügenpresse“ von den Demonstrant:innen skandiert, Anführer Lutz Bachmann ließ sich das Wort sogar auf ein T-Shirt drucken.
Nun spielen sich rechte und linke Blätter und Blogs bei der Pflege des Narrativs die Bälle zu – selbst wenn der Begriff nicht immer wörtlich verwendet wird. Das linke Magazin „Konkret“ lobte den Tippgeber, der das BMI-Papier den NachDenkSeiten zugespielt hat, für seine vermeintliche Courage. In dem Papier sei „hoch detailliert“ aufgeführt, „wie die Bundesregierung eine mediale Einheitsfront gegen Putin und für die Ukraine zu schmieden gedenkt“, schrieb es. Von etablierten Medien über „Faktenchecker-Agenturen“, Facebook und Google bis hin zu Kinderreportern sollten alle „aufs patriotische Ziel hinwirken, ,,Desinformation‘ zu unterbinden, das heißt, jeden Widerspruch zur Regierungspropaganda als Fake News zu diffamieren“, beklagte der „Konkret“-Autor. Ein Autor nebenbei bemerkt, der in seinem eigenen Blog Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus als von „Lockdown-Regierungskommandanten“ ausgehende „Voodoo-Politik“ und den Präsidenten des Robert-Koch-Instituts als „Seuchenfeldherrn“ diffamierte.
Aus Sicht der Bundesregierung ist es nur logisch, dass sich Parallelmedien über Maßnahmen gegen russische Desinformation empören – tragen sie doch selbst vielfach zur Verbreitung bei. Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums sagt auf Anfrage: „Auch verschiedene sogenannte ,Alternativmedien‘ in Selbstabgrenzung zum sogenannten ,politischen Mainstream‘ spielen bei der Verbreitung von Desinformation eine Rolle.“
Die russische Regierung habe den – inzwischen nach Beginn des Kriegs gegen die Ukraine verbotenen – Sender RT Deutsch zu einem „Alternativmedium“ aufgebaut, „das auch von der sogenannten Querdenker-Bewegung und anderen Teilen der deutschsprachigen Covid-19-Protestszene genutzt wird“, analysiert das Bundesinnenministerium. Auch in einschlägigen Telegram-Foren würden russische Desinformationsnarrative verbreitet. „Teile der Querdenker-Bewegung sind, wie auch zahlreiche weitere Coronaleugner und Impfgegner im deutschsprachigen Raum, empfänglich für russische Desinformation und Propaganda und verbreiten diese weiter.“ Russland ziele mit diesen Aktivitäten „auch auf eine Diskreditierung des Westens und eine Aufweichung der Geschlossenheit der Staatengemeinschaft“. Seit der Einschränkung der Reichweite russischer staatsnaher Medien würden „Desinformationsakteure“ Propaganda verstärkt über Accounts in sozialen Medien verbreiten.
Für Parallelmedien gelten Rechts-Links-Schemata schon eine Weile nicht mehr. So thematisierte auch die Linken-Politikerin Wagenknecht, die von eigenen Genoss:innen wegen ihrer teilweise rechtsoffenen Positionen kritisiert wird, vor ein paar Tagen in ihrem „Video der Woche“ eine „Einschränkung des zulässigen Meinungskorridors“. Auch in den sogenannten Qualitätsmedien könne, wer sich nicht konform äußere, „regelrecht hingerichtet werden“, sagte sie. Wagenknecht behauptete sogar, in Deutschland sei das „Ende der grundgesetzlich verbrieften Meinungsfreiheit“ mittlerweile erreicht. Beifall bekommt sie von ganz links und ganz rechts.
Im April, als über die einrichtungsbezogene Impfpflicht debattiert wurde, feierte Reitschusters Blog Wagenknecht als „Ein-Frau-Opposition“. Und schon im September 2021, kurz vor der Bundestagswahl, analysierte der Blog ein Youtube-Video mit der populistischsten Politikerin der Linken: „Ein expliziter Wahlaufruf, die eigene Partei zu wählen, fehlte allerdings“, hieß es dazu. Auch die NachDenkSeiten stehen immer treu hinter Wagenknecht, wie umstritten sie in der eigenen Partei auch sein mag, egal ob es um ihre Corona-Verharmlosung oder ihre Putin-Versteherei geht. Aktuell beobachtet der Blog eine „groteske Schlammschlacht eines medial sehr gut vernetzten Teils der Partei“ gegen die Noch-Linken-Politikerin. Chefredakteur Jens Berger riet Wagenknecht in einem Aufsatz: „Es wäre wohl wirklich besser, sie gründete ihre eigene Partei.“
Das rechtsextreme „Compact“-Magazin teilt diese Idee – und mischt bei der Propaganda mit. Es hebt Sahra Wagenknecht auf die Titelseite des Dezember-Hefts. Überschrift: „Die beste Kanzlerin – eine Kandidatin für Links und Rechts“. Mit einer eigenen Partei könne Wagenknecht bis zu 30 Prozent abräumen, prophezeit Chefredakteur Jürgen Elsässer: „Zusammen mit der AfD würde das zu einer Querfront-Mehrheit reichen.“