03. November 2020
Kolumne von Michael Bittner
Ob Donald Trump die Präsidentschaftswahl gewinnt oder sein Herausforderer Joe Biden – bleiben wird die Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft in zwei Lager, die einander feindlich gegenüberstehen wie zwei Nationen in einem Land. „So schlimm zerrissen waren die USA noch nie!“, hört man’s aus den Medien klagen. Wer so redet, verfügt offenbar nur über ein Kurzzeitgedächtnis und steckt die Nase selten in ein Geschichtsbuch. Die Kulturkämpfe der Neunziger, die Unruhen während der Bürgerrechtsbewegung, der Krieg zwischen Nord- und Südstaaten, der erbitterte Streit zwischen den Föderalisten und ihren Gegnern schon zur Gründung der Republik – die Vereinigten Staaten sind noch nie vereint gewesen.
Donald Trump hat eine gute Witterung für diese Spaltung bewiesen. Er verdankt seinen Erfolg dem demagogischen Geschick, mit dem er vor allem den weißen, den ländlichen und den wohlhabenden Wählerinnen und Wählern versicherte, sie allein seien das „wahre“ Amerika, das unter seiner Herrschaft „zuerst“ kommen werde. Während er die nationale Einheit beschwor, beutete er die nationale Zweiheit aus. Für ihn wie für alle seine Gesinnungskameraden gilt: Wer auch immer behauptet, er allein spreche für die ganze Nation, der ist ein gefährlicher Schwindler. Er missachtet nicht nur die Interessen der anderen, sondern erklärt seine Gegner unweigerlich auch zu Feinden des Volkes.
Gibt es einen Staat auf der Welt, in dem mehr Patriotismus gepredigt wird als in den USA? Bei jeder Gelegenheit schwört man der Republik die Treue und singt die Hymne. Kein Politiker tritt vor eine Kamera ohne eine Kulisse von mindestens drei Dutzend Sternenbannern. Keine Rede kommt aus ohne das Lob des einmaligsten Landes im Universum. Aber all dieser Schwindel kann nicht die Zwietracht, den Neid und die Angst im Land der Ungleichheit übertönen, in dem einige im Paradies leben und andere im Elend. Oder ist es etwa die Buntheit der USA, die den Zusammenhalt schwächt? Wäre dem so, müsste allerdings auch das Einwanderungsland Kanada vor dem Bürgerkrieg stehen. Es sieht nicht danach aus.
Der „Patriotismus“, so versichert uns der konservative Politikwissenschaftler Volker Kronenberg in seinem gleichnamigen Buch, sei der „Zement“, der das „gemeinsame Haus“ unserer Nation zusammenhalte. Wer kein Betonkopf ist, der erkennt hingegen: Patriotismus ist nicht das Fundament gesellschaftlicher Solidarität, sondern nur ein billiger Ersatz. Er schließt nicht nur ab vom Rest der Welt und sogar jene Inländer aus, die nach dem Gesetz als „Ausländer“ gelten. Er ermöglicht es auch, sich am Gefühl der Volksgemeinschaft zu berauschen, ohne sich tatsächlich um die eigenen Nachbarn zu kümmern oder gar etwas gegen herrschende Ungerechtigkeit zu unternehmen. Die Rechten sagen, wir sollten in Sachen Patriotismus vom Amerikaner lernen. Sie haben recht – aber ganz anders, als sie denken.
Foto: Amac Garbe