22 September 2020
Kolumne von Özge
Vor 20 Jahren wurden meine Mutter Ayşın und meine damals fünfjährige Schwester Elif auf der Straße von einem Neonazi angegriffen. Ich habe mit meiner Familie noch einmal über das Ereignis und seine Folgen gesprochen. Die dabei entstandenen Gespräche werden der Reihe nach hier veröffentlicht, heute das Gespräch mit meiner Mutter, die 58 ist und als Psychologin arbeitet.
Ich: Was ist an dem Tag passiert?
Ayşın: Ich wollte mit meiner Tochter einkaufen, wir liefen grad zum Auto. Wir sprachen dabei deutsch. Am Auto stand ein Mann und fing an, uns anzupöbeln. Ich fragte, was los sei. Plötzlich rief er: Halt’s Maul, du Türkenfotze! Er trat gegen unser Auto sagte, das hat hier sowieso nicht zu stehen, geht dahin, wo ihr herkommt! Dann ging er auf mich los. Um meine Tochter zu schützen, habe ich mich irgendwie auf die andere Straßenseite manövriert. Er hat mich geschlagen und angespuckt. Da war ein Laden, wo wir immer gern waren, da habe ich die Besitzerin um Hilfe gebeten, aber sie hat mir nur 40 Pfennig in die Hand gedrückt und die Tür zugemacht. Es war furchtbar. Drumherum waren Leute, mein Kind war drüben und weinte, ich sah unsere Nachbarn auf ihrem Balkon. Ich schrie: wieso ruft hier niemand die Polizei?
Irgendwann kamen sie natürlich. Als meine Personalien aufgenommen wurden, stand der Kerl die ganze Zeit in Hörweite. Niemand hat den entfernt. Als ich meinen Geburtsort – Istanbul – nennen sollte, habe ich mich nicht getraut, ihn anzugucken, als ob er ausgerechnet das nicht mitbekommen darf. Er hat aber natürlich alles gehört. Als er dann befragt werden sollte, sagte die Polizei zu mir, dass ich zur Seite gehen soll. Ich sagte: wieso? Der hat doch auch gehört, was ich gesagt habe? Aber die meinten nur, ist jetzt egal, gehen Sie mal bitte.
Da habe ich das erste Mal angefangen, zu weinen. Unsere Nachbarn, die ich am Balkon gesehen hatte, waren plötzlich da und sagten mir, sie hätten die Polizei gerufen, aber sich nicht getraut, selbst runterzukommen. Nacheinander sagten alle so etwas in der Art. Die Polizisten haben später noch nach Zeugen gefragt, aber keiner hat sich gemeldet. Die hatten zu viel Angst, da reingezogen zu werden. Das habe ich denen nie verziehen.
Ich: Was waren die Folgen? Wie hat das dein Leben beeinflusst?
Ayşın: Ich weiß noch, wie ich zuhause ankam. Da sah ich meinen Mann, meine andere Tochter, unser Wohnzimmer, und dachte mir: ich mache jetzt die Tür zu und gehe nie wieder raus.
Am Abend kam ein Freund von uns, ein Deutscher. Als ich ihm den Täter beschreiben sollte, sagte ich: ein großer Blonder mit blauen Augen, so einer wie du halt! Na schönen Dank auch, sagte er. (lacht) Da kam ich so ein bisschen zu mir und dachte, was machst du denn, das ist doch ein ganz anderer Deutscher!
Ich habe später eine Traumatherapie gemacht. Es fiel mir anfangs unglaublich schwer, überhaupt rauszugehen. Die Kollegen auf der Arbeit haben mich an meinem ersten Arbeitstag mit einem Riesen-Blumenstrauß empfangen, das war schön. Bei der Gerichtsverhandlung sah ich dann übrigens, dass der Täter überhaupt nicht groß und bedrohlich war, das war plötzlich ein mickriger, hässlicher Kerl, der sich noch bei mir entschuldigen wollte – das habe ich nicht angenommen. Am Ende musste er 600 Mark an eine gemeinnützige Organisation zahlen.
Hätte ich die Therapie nicht gemacht, hätte das wohl einen großen Einfluss auf mein Leben gehabt. Aber manchmal fällt es mir nicht mal ein, wenn andere von ihren Rassismus Erfahrungen erzählen. Irgendwie erschreckend. Eine Ausländerin sein bedeutet, glaube ich, dass so etwas zur Realität gehört. Ich fühl mich hier beheimatet und denke manchmal, wenn andere Opfer von ihren Erlebnissen berichten: Leute, redet doch nicht so viel darüber, Deutschland ist ja nicht nur das. Dabei wurde mir und meinem Kind das doch auch angetan! Ich finde es schlimm, dass mir das so normal vorkommt, als ob das nichts wäre.
Foto: Özge