09. September 2023
Von Matthias Meisner
Es ist eine lange, eine ungute Tradition: Geflüchtete waren in Tschechien kaum je wirklich willkommen, wie der Schriftsteller Jaroslav Rudiš 2016 in einem Tagesspiegel-Interview feststellte. Rudiš erinnerte sich an seine Schulzeit in der ČSSR: „Wir haben uns gern mit sozialistischem Internationalismus geschmückt, aber der war ja weit weg.“ Die Praxis sah anders aus.
Eine „Inselmentalität“ und eine „starke Rückwendung zum Nationalismus“ macht der Autor seit Jahren in Tschechien aus. Sie mache ihn traurig. Er sprach von verbreiteter „Angst, dass einem etwas weggenommen wird“. Und: „Ein Weltuntergangsgefühl, das auf die angeblich Anderen projiziert wird. Nach der Wende traf das die Roma, heute sind es Flüchtlinge, die es bei uns praktisch gar nicht gibt, die aber die Köpfe bevölkern.“
Rudiš zog 2016 Vergleiche zu der damals wachsenden Anti-Asyl-Stimmung in Deutschland und der Lage in seinem Heimatland. Auf die Frage, ob er Ausschreitungen gegen Geflüchtete wie in den sächsischen Orten Clausnitz oder Bautzen auch in Tschechien für möglich halte, sagte Rudiš: „Noch nicht. Vor den Heimen in Tschechien – den wenigen, die existieren – gab es bisher nur Proteste. Mit mehr Flüchtlingen wäre das wie in Sachsen. Sofort.“
Jetzt bestätigten zwei Autorinnen des Mercator-Forums Migration und Demokratie (Midem) in einem Papier zum Thema „Migration in Tschechien“ diesen Befund. Kristina Chmelar und Janine Joachim schreiben in der Analyse für das Forschungszentrum an der Technischen Universität Dresden unter Leitung von Prof. Hans Vorländer, die tschechische Gesellschaft habe sich in den vergangenen Jahren „immer wieder besonders zuwanderungskritisch, nicht zuletzt auch flüchtlingsfeindlich“ gezeigt.
Während 2015/16 jedoch praktisch keine Geflüchteten dauerhafte Aufnahme in Tschechien fanden, gab es mit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine eine Kehrtwende auf Zeit. Tschechien wurde „zu einem der Hauptzielländer ukrainischer Fluchtmigration“, schreiben Chmelar und Joachim. Mehr als 500.000 Personen erhielten einen temporären Schutzstatus. „Tschechien, mit einer Bevölkerungsanzahl von zehn Millionen, nahm damit pro Kopf so viele Geflüchtete aus der Ukraine auf wie kein anderes Land in der Europäischen Union.“ Etwa 325.000 dieser Geflüchteten aus der Ukraine sind nach den Recherchen der beiden Wissenschaftlerinnen noch im Land.
„Besonders in den ersten Monaten war die gesellschaftliche Solidarität enorm“, analysieren Chmelar und Joachim. Jedoch sei diese im Kriegsverlauf sukzessive erodiert. Die Wissenschaftlerinnen sprechen von „Fatigue“, Ermüdung – einem Phänomen, das auch in vielen anderen Ländern mit vielen Geflüchteten zu beobachten ist. Im Frühjahr 2022 befürworteten 85 Prozent der Tschech:innen eine Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine, im Herbst waren es immerhin noch 72 Prozent. In dem Papier heißt es: „Zwar zeigen die von Midem erhobenen Daten, dass 56 Prozent der Befragten davon überzeugt sind, Geflüchtete aus der Ukraine seien ,deutlich besser‘ in die tschechische Gesellschaft integrierbar als Menschen aus dem Nahen Osten oder Afrika, jedoch hat dies offenkundig kaum Einfluss auf die Bereitschaft, ihnen eine langfristige Bleibeperspektive einzuräumen.“
Ganz generell – unabhängig von den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine – fordern laut Midem-Erhebung 60 Prozent der tschechischen Befragten, Zuwanderung ins eigene Land solle eingeschränkt werden, im EU-Durchschnitt sind es „nur“ 47 Prozent. 90 Prozent der tschechischen Bevölkerung würden Geflüchtete im Allgemeinen als kleine oder große Gefahr sehen. „Auffällig einwanderungskritische Positionen“ würden auch jene vertreten, die sich politisch links verorten. Unter Anhänger:innen der Linken Tschechien liegt der Anteil jener, die sich für eine Einschränkungen von Zuzugsmöglichkeiten aussprechen, mehr als doppelt so hoch wie im EU-Durchschnitt (61 vs. 26 Prozent).
Chmelar und Joachim bilanzieren: „Zuwanderung bleibt in Tschechien ein Reizthema. Die Hilfsbereitschaft gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine hat hieran nichts Grundlegendes verändert.“
Und dabei haben die Wissenschaftlerinnen in ihrem Papier nicht einmal die spezielle Rolle der Roma im Land erwähnt, von denen viele seit Jahrzehnten in Tschechien heimisch sind. Sie werden diskriminiert wie keine andere Minderheit. Die linksgerichtete Zeitung „Pravó“ veröffentlichte vor wenigen Wochen eine Umfrage, laut der die Roma die unbeliebteste aller in Tschechien lebenden nationalen Gruppen sind. Nur fünf Prozent der Tschech:innen mögen sie der Erhebung zufolge, während beispielsweise die Slowak:innen auf 79 Prozent, die Vietnames:innen auf 50 Prozent, die Pol:innen auf 47 Prozent und die Deutschen auf 38 Prozent kommen.
Als sich dann nach Kriegsbeginn noch – obwohl es gar nicht so viele waren – Roma aus der Ukraine um einen Zuzug nach Tschechien bemühten, war es mit der Willkommenskultur ganz vorbei. „Bedingt willkommen“ seien diese in Tschechien, berichtete der ARD-Reporter Danko Handrick im Mai 2022, drei Monate nach Beginn des Angriffskrieges. Tschechien wisse sich mit dieser Flüchtlingsgruppe keinen Rat. Und viele wurden von Zeltstadt zu Zeltstadt geschickt, hausten und hausen unter ärmlichen Bedingungen.
Der Umstand, dass Ungarn recht großzügig Pässe in Transkarpatien im Westen der Ukraine vergeben hat – im Sinne der groß-ungarischen Politik von Viktor Orbán – wurde von den Behörden dann als vorgeschobenes Argument benutzt, Roma die Einreise zu verweigern. Sie seien ja gar keine echten Ukrainer:innen mehr – und also auch keine Kriegsflüchtlinge. Die Restriktion betraf ausschließlich Roma, keineswegs andere Zuzügler:innen aus Transkarpatien mit zwei Pässen. Das Portal romea.cz berichtete im Juni 2022, die Blase angesichts der offiziellen Behauptungen sei geplatzt, wonach angeblich viele Roma-Kriegsflüchtlinge die ukrainische und die ungarische Staatsangehörigkeit besitzen würden. Obwohl viele Politiker:innen seit Monaten betonen würden, dass es „viele“ Roma-Flüchtlinge mit einer doppelten Staatsbürgerschaft gebe, sei deren tatsächliche Zahl laut Recherchen des tschechischen Fernsehens „absolut marginal“. Und trotzdem blieb es bei Vorbehalten speziell gegenüber Roma.
Im Sommer häuften sich dann in Tschechien die Konflikte zwischen einheimischen Roma und ukrainischen Geflüchteten. In Pardubice und Brno kam es zu großen anti-ukrainischen Demonstrationen von Roma.
Die offizielle Politik in Tschechien zeigt sich wenig geneigt, bei diesem Thema zu schlichten – aus Sorge, die Solidarität mit Kyjiw und mit Geflüchteten aus der Ukraine könnte weiter zurückgehen. Kristina Chmelar, eine der Autorinnen der Midem-Analyse, hat eine Erklärung dafür. Sie sagt: „Die tschechische Politik hat erkannt, dass die tschechische Gesellschaft flüchtlingsfeindlich ist. Um den sozialen Frieden nicht zu gefährden, nimmt sie die Diskriminierungen von Roma in Kauf.“ Chmelar hält das für „fies und furchtbar“ – aber gibt zu, dass es auch als „rational“ zu erklären ist.