05. Juli 2022
Kolumne von Michael Bittner
Und plötzlich geht alles ganz schnell: Für die Ukrainerinnen und Ukrainer, die wegen des russischen Eroberungskriegs aus ihrer Heimat fliehen müssen, werden die Grenzen geöffnet. Selbst ein Land wie Polen, das für seine Politik der Abschottung bekannt ist, entdeckt plötzlich das eigene Herz. Quartiere für die Flüchtenden werden gefunden, auch Plätze in Schulen für die Kinder, ja sogar Arbeitsstellen sind mancherorts schon im Angebot. Nichts daran ist falsch. Großes Lob verdienen vor allem die vielen freiwilligen Helferinnen und Helfer auch in Deutschland, die Geflüchtete in ihren eigenen Wohnungen unterbringen und oft kompetenter betreuen als die dafür eigentlich von Staats wegen zuständigen Versager.
Und doch mischt sich in die Freude auch Zorn darüber, welch unverschämte Doppelmoral die europäischen Staaten in der Asylpolitik zeigen. Nicht alle, die aus der Ukraine fliehen, sind gleichermaßen willkommen. Wer die falsche Hautfarbe oder Staatsangehörigkeit besitzt, muss fürchten, abgewiesen oder interniert zu werden. Und im Süden der EU wird nach wie vor nicht die Hand ausgestreckt, sondern die Faust geballt. Gewaltsam Zurückgestoßene, denen ihr Recht verweigert wird, einen Asylantrag zu stellen, versuchen verzweifelt, Grenzzäune zu überwinden und verlieren dabei massenhaft ihr Leben – kalkulierte Katastrophen, die, als „Anstürme“ propagandistisch ausgebeutet, abschrecken und zugleich die Zustimmung der Europäer für eine noch unbarmherzigere Grenzpolitik sichern sollen.
Wer solch seltsame Kontraste nicht zu begreifen vermag, der geht möglicherweise von der Annahme aus, Grenzen seien Linien in der Landschaft, deren Übertretung für alle Menschen in gleicher Weise möglich oder unmöglich sei. Tatsächlich aber geht es an Grenzen nicht nur sehr ungleich zu, es ist sogar ihr Hauptzweck, Ungleichheit aufrechtzuerhalten, notfalls gewaltsam. „Sortiermaschinen“ nennt sie der Soziologe Steffen Mau in seinem gleichnamigen, überaus klugen Buch über „die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert“, das alle lesen sollten, die sich mit dem Thema Migration theoretisch oder praktisch beschäftigen. Das Versprechen der Globalisierung, die Grenzen der Welt würden durchlässig, erfüllt sich nur für wenige. Während den Menschen in den reichen Ländern des Nordens das Reisen, das Investieren, das Handeln und das Arbeiten auf der ganzen Welt immer leichter gemacht wird, bleiben die armen Menschen des Südens stärker denn je auf ihre Scholle gebannt. Es ist das Vermögen und die ökonomische Brauchbarkeit, die darüber entscheiden, wer an den Grenzen abgewehrt und wer eingelassen wird. Und selbstverständlich spielt auch der Rassismus keine geringe Rolle, denn auch für die Herkunft werden pauschal Qualitätspunkte vergeben oder abgezogen. Die Grenze, von der Politik gepriesen als unverzichtbarer Schutz der Gesellschaft, ist in Wahrheit vor allem Herrschaftsinstrument der regierenden Eliten. Deswegen wird sie immer weiter aufgerüstet, mit Technologie, aber auch mit Waffen. Und während Menschen festgehalten werden, wird die Grenze beweglich: Flüchtende werden inzwischen schon fern ihres Zieles gestoppt.
Man muss kein Schwarzmaler sein, um zu der Vermutung zu gelangen, dass die Begeisterung für die Ukrainerinnen und Ukrainern irgendwann nachlassen wird so wie vor wenigen Jahren die Sympathie für die Geflüchteten aus Syrien. Der kommende Winter wird für viele Einheimische dunkel, kalt und teuer werden. Schon jetzt hört man von rechts Stimmen, die vor „Asylmissbrauch“ warnen und allenfalls wirtschaftlich nutzbare Leute dauerhaft dulden wollen. Ein System, das im Kern ungerecht ist, muss eben immerzu Sündenböcke zur Ablenkung produzieren. Und niemand ist besser für diese Rolle geeignet als derjenige, der zum „Fremden“ erklärt werden kann.
Foto: Amac Garbe