06. November 2021
Nach den vergangenen intensiven Tagen, an denen wir in 7 Rettungen mehr als 800 Menschen von labilen und seeuntauglichen Schlauch- und Holzbooten sicher auf die Sea Eye 4 evakuieren konnten, hieß es heute für die Crew der Rise Above: Bereitet einen Supply für die Sea Eye4 vor – sie brauchen dringend mehr Decken, Hygieneartikel und Schüsseln um Essen zu verteilen. Am Morgen bereiteten wir alles vor und begaben uns aufs RHIB, um die Sachen zu überbringen. Bereits als sich die Rise Above der Sea Eye 4 nähert, hören wir von weitem Applaus und freudige Rufe. Auf einer kurzen Tonaufnahme von Bord der Sea Eye 4, die uns kurz danach erreicht, hören wir einen herzlichen Gesang von den Gästen an Bord: „Rise Above, Rise Above, Rise Above“. Unsere Crew, deutlich gerührt, aber fokussiert, bereitet den anstehenden Supply-Shuttle vor und ich mache mich mit meinem RHIB-Team auf den Weg. Kaum sind wir alongside zu dem völlig überfüllten Seenotrettungsschiff, werden wir auch hier wieder mit tosendem Applaus empfangen. Nach der Übergabe der benötigten Sachen steigen Kapitän Juan und ich gemeinsam über auf die Sea Eye, um uns selbst einen Eindruck von der Situation zu machen. Ich bin überwältigt von der Menge an Menschen, die sich an Bord befinden und brauche zunächst einen Moment um mich zu orientieren. Die Crew der Sea-Eye empfängt uns mit so herzlichen Worten, so viel Respekt und Dankbarkeit, was wir nur ebenso dankbar aber bestimmt erwidern konnten. Es ist ein wunderbares Wiedersehen, nachdem wir uns zuletzt bei der gemeinsamen, herausfordernden, 12 Stunden andauernden Rettung der über 400 Menschen von dem riesigen Holzboot nur über Funk verständigen konnten. Und doch fühlte es sich so an, als würden wir uns alle schon ewig kennen.
Ich schaue mich wieder um. Rings um mich blicke ich in erleichterte, glückliche, aber auch angespannte, traurige und völlig erschöpfte Gesichter. Einige kommen mir bekannt vor. Ich grüße sie und sie winken und lächeln mir zu, formen Herzen mit ihren Händen. Sie erkennen mich wieder. Felix, unser RHIB Fahrer, Chris, unser Communicator und ich als Mediator auf dem RHIB hatten schließlich während der Rettungen teilweise mehrere Stunden mit ihnen gesprochen und ihnen die Zuversicht gegeben, nun in Sicherheit zu sein. Als ich dann meine Kamera heraushole, wollen auf einmal alle, dass ich Bilder von ihnen mache. Dem komme ich gern nach. Und Selfies haben sie eingefordert. Alle sind so unfassbar dankbar und die Freude uns wiederzusehen ist groß. Ich kann mich nur schwer lösen – gern möchte ich mehr mit ihnen sprechen und Zeit verbringen. Doch wir müssen irgendwann auch wieder zurück zur Rise Above.
Besonders beeindruckt bin ich von der Ruhe an Bord. Es gibt ein System, das trotz der unfassbar großen Anzahl an Menschen zu funktionieren scheint. Die Crew der Sea Eye hat alles im Griff. Sie sind da für die Menschen. unterstützen sie in allen Belangen. Das Medics Team hat gut zu tun und behandelt diejenigen, denen es nicht so gut geht – seien es kleinere Verletzungen, pure Erschöpfung oder Seekrankheit. Aber nicht nur die Crew packt mit an. Die Gäste an Bord organisieren sich selbst, sorgen selbstständig für die Reinigung der Sanitäranlagen und helfen bei der Koordinierung und der Durchführung der Essensausgaben. Wie eine eigene kleine Kommune.
Doch der Schein trügt. Schaue ich nach draußen, sehe ich, wie schlechtes Wetter aufzieht. Wind und Welle werden stärker. Auch wenn sich alle an Bord der Sea Eye 4 mit ihrer Situation arrangieren, so ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Stimmung kippen kann.
Juan und ich werden erneut sehr herzlich verabschiedet – sowohl von der Crew, als auch von den Gästen an Bord, als wir wieder ins RHIB steigen und zur Rise Above zurückkehren.
Dieser Ort, die Sea Eye4, ist kein Ort, an dem sich so viele Menschen länger als nötig aufhalten sollten. Und auch weiß ich, dass die Crew an ihrer Belastungsgrenze arbeitet. Alle sind erschöpft und sie hoffen bald an Land gehen zu dürfen. Die Menschen an Bord brauchen dringend den Schutz und die Sicherheit, die ihnen nach dieser anstrengenden Reise zusteht.
Stunden später ist endlich klar: Der Sea Eye 4 wurde ein Sicheren Hafen zugewiesen. Ehrensache: Wir werden sie nach Trapani begleiten und auch weiterhin alles uns Mögliche tun, sie zu unterstützen, wo wir nur können. Wir sind glücklich, dass die Menschen endlich ankommen können!
Trotzdem stelle ich mir immer noch die Frage, warum die Menschen dazu gezwungen werden, sich auf die tödlichste Migrationsroute der Welt zu begeben, um dann schlussendlich auf einem Rettungsschiff einer privaten Seenotrettungsorganisation ausharren zu müssen, bis sich irgendwelche Autoritäten mal entscheiden ihnen ihr Recht auf Schutz in Europa zu gewähren. Es ist immer wieder ein so perfides Spiel mit Menschenleben. Ich möchte die zuständigen Behörden gern einmal kräftig wach rütteln. Niemand verdient es so behandelt zu werden, lieber „Friedensnobelpreisträger“ EU. Niemand.