03. September 2023
Kolumne von Ruprecht Polenz
In Deutschland ist jede:r Vierte davon überzeugt, die Politik werde von „geheimen Mächten“ gesteuert. Und jede:r Fünfte glaubt, die Massenmedien würden uns „systematisch belügen“. Eine Studie der Universität Hohenheim hat „Rechtspopulismus, Verschwörungs-Erzählungen, Demokratiezufriedenheit und Institutionenvertrauen in Deutschland, 2023“ untersucht. Sie wurde vor wenigen Tagen veröffentlicht.
Doch ehe ich zu weiteren Ergebnissen komme, möchte ich kurz auf den 2011 erschienenen Bestseller „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ zurückkommen. Darin geht Youval Noah Harari auch der Frage nach, warum sich die Spezies des Homo sapiens durchgesetzt hat, obwohl sie nicht die schnellste, größte oder stärkste war.
Er hat zwei Erklärungen dafür: Erstens sei der Homo sapiens die einzige Spezies, die Informationen außerhalb der eigenen DNA speichern könne (durch Bilder, Schrift). Und zweitens könnten Menschen, anders als Tiere, über große Entfernungen und in sehr großer Zahl miteinander kooperieren – durch vorgestellte Ordnungen, an die alle glauben und die deshalb für alle gültig sind.
Wenn also die Götter von den Menschen bestimmte Verhaltensweisen erwarteten, bemühte man sich, diesen Erwartungen zu entsprechen, um nicht von den Göttern bestraft zu werden. Die Menschen glaubten an diese Ordnung, wie an ein Naturgesetz.
Der Unterschied ist nur: wenn ich nicht mehr an die Gesetze der Schwerkraft glaube, fällt das Glas trotzdem vom Tisch auf den Boden. Diese Gesetze bleiben bestehen, egal ob ich daran glaube, oder nicht. Aber wenn ich an eine vorgestellte Ordnung nicht mehr glaube, ist sie kaputt.
Wir glauben daran, dass wir für den rot bedruckten Zettel in unserem Portemonnaie in der Bäckerei ein Brot und Brötchen bekommen. Und unser Vertrauen wird nicht enttäuscht, weil alle an unsere Finanzordnung glauben.
Das war bekanntlich nicht immer so. Im November 1923 kostete ein Brot in Deutschland 5 Milliarden Mark. Eine Schubkarre hätte nicht ausgereicht, alle Scheine in die Bäckerei zu transportieren. Weil der Glaube an die Finanzordnung zerstört war, war sie kaputt. Zigaretten und Schnaps waren die neue Währung.
Auch unsere Demokratie ist eine vorgestellte Ordnung. Sie ist kaputt, wenn nicht mehr an sie geglaubt wird. Vor diesem Hintergrund sollten wir die erschreckenden Ergebnisse der Hohenheim-Studie verstehen.
Ein Viertel der Deutschen glaubt nicht, dass Politik von der Regierung und gewählten Abgeordneten gemacht wird, sondern sieht „geheime Mächte“ am Werk. Natürlich beeinflussen Interessenverbände, Lobbygruppen, Medien und öffentliche Meinung die politischen Entscheidungen. Außerdem spielen internationale Entwicklungen eine Rolle. Diese Einwirkungen sind teils gegensätzlich, vor allem unübersichtlich und nicht völlig nachvollziehbar. Aber „geheime Mächte“, die Politiker:innen wie Marionetten an Fäden hätten, sind nun wirklich nicht am Werk.
„Lügenpresse“ – die von Pegida und AfD systematisch und permanent insinuierte Beschuldigung gegen die etablierten Medien scheint Wirkung zu zeigen. Immerhin glaubt inzwischen jede:r Fünfte, die Massenmedien würden uns „systematisch belügen“. Es geht also nicht um einzelne Fehler in der Berichterstattung. Und es geht um angeblichen Vorsatz, nicht wahrheitsgetreu zu berichten.
Warum ist diese Einstellung gegenüber unseren Zeitungen, Zeitschriften, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und den Privatsendern gefährlich für unsere Demokratie?
Wir alle beziehen 95 Prozent unseres Wissens über aktuelle Ereignisse und unseres Bildes von Deutschland, Europa und der Welt durch diese Medien. Was passiert, wenn wir nicht mehr darauf vertrauen, dass man aus dem Lesen mehrerer Zeitungen, durch Radio hören und fernsehen ein einigermaßen zutreffendes Bild der Wirklichkeit bekommt?
Wenn man unserer freien Presse gar nichts mehr glaubt, weil sie uns angeblich „systematisch belügt“, können wir uns nicht mehr orientieren. Es ist, als hätten wir Nebel im Kopf.
Um uns trotzdem zu orientieren, laufen wir in Richtung des grellsten Scheinwerfers und der lautesten Stimme. Darauf setzen Putin und Trump, und darauf setzen faschistische Parteien wie die AfD.
Die Hohenheim-Studie hat auch nach der Demokratiezufriedenheit gefragt.
Danach ist ein Viertel mit dem Funktionieren der Demokratie auf Bundesebene unzufrieden. Auf Landes- und auf kommunaler Ebene sind es weniger. Je ausgeprägter das rechtspopulistische Weltbild einer Person ist, desto größer ist ihre Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie. Aus der Gruppe mit dem stärksten rechtspopulistischen Weltbild sind 85 Prozent mit dem Funktionieren der Demokratie auf Bundesebene unzufrieden.
Fast ein Drittel der Deutschen glaubt, in einer „Scheindemokratie“ zu leben, in der die Bürger nichts zu sagen haben. Das hat eine repräsentative Allensbach-Umfrage 2022 ergeben.
Und noch ein Umfrage-Ergebnis, um zu beurteilen, wie es mit dem Glauben an unsere demokratische Ordnung bestellt ist. Auf die Frage „Welcher Partei trauen Sie am ehesten zu, die derzeit wichtigsten politischen Probleme zu lösen?“, antworteten 60 Prozent: Keiner Partei.
Ich finde diese Befunde alarmierend. Bundesregierung und demokratische Opposition müssen dringend daran arbeiten, dass ihnen wieder mehr Problemlösungskompetenz zugetraut wird. Dabei würde eine Arbeitsweise helfen, die sich vor allem und sichtbar auf die Bearbeitung der Probleme konzentriert, statt sich an der politischen Konkurrenz abzuarbeiten.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk und die Qualitätszeitungen müssen auch mehr tun, um das Vertrauen in ihre Arbeit zu stärken. Ein transparenter Umgang mit Fehlern und eine bessere Fehlerkultur würden helfen. Wahrscheinlich müßten sie auch regelmäßig ihre Arbeitsweise erklären und transparent machen, damit sich die Leser:innen, Zuschauer- und Zuhörer:innen immer wieder ein Bild davon machen können, wie sorgfältig gearbeitet wird – und warum trotzdem immer wieder auch Fehler passieren können.
Jedenfalls sollte sehr ernst genommen werden, dass der Glaube in die Demokratie bei einem Teil der Deutschen erschüttert ist.
Es gibt nicht nur für das Klima sogenannte Kipp-Punkte, wie das Auftauen der Permafrost-Böden oder den Zusammenbruch des Golfstroms. Es gibt auch Kipp- Punkte für die Demokratie, bei deren Überschreiten man den Fall nicht mehr aufhalten kann. Der Aufprall wäre hart und schmerzhaft.
Deshalb ist es sehr wichtig, zwischen fehlenden oder unzureichenden Lösungen für politische Probleme zu unterscheiden und dem System. Das System, in dem wir nach Problemlösungen suchen, ist unsere Demokratie.
Churchill hat dazu richtig gesagt:„Die Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.“ (Und gegenwärtig ausprobiert werden).
Foto: Kai-Uwe Heinrich TSP