01. Dezember 2020
Kolumne von Michael Bittner
Bremen und Nordrhein-Westfalen sind vorangegangen, weitere Bundesländer werden folgen: Die schwarz-weiß-rote Reichsfahne könnte bald in ganz Deutschland verboten sein. (Selbstverständlich mit Ausnahme von Sachsen, wo bekanntlich noch Galgen als Folklore durchgehen.) Wird’s für die ewig Gestrigen nun eng? Wohl nur, wenn wir konsequent fortschreiten auf dem Weg der Verbote. Denn was, wenn Reichsbürger und andere Nazis sich mit schwarzen Hüten, weißen Hemden und roten Hosen behelfen? Dieses Kostüm muss dann wohl auch mit Strafe bedroht werden. Aber dabei können wir nicht stehen bleiben. Wir müssen bei Schnauzbärten eine Mindestbreite von fünf Zentimetern vorschreiben. Scheitel dürfen nur noch nach links getragen werden. Um allen Missverständnissen vorzubeugen, ist das Winken mit der rechten Hand grundsätzlich zu untersagen. Ganz schwierig wird’s, wenn die Nazis zu ihrem liebsten Trick greifen und einfach Symbole der Linken entwenden, um sie selbst zu benutzen. Schon jetzt laufen einige von ihnen nicht mehr mit dem Reichsadler, sondern mit der Friedenstaube auf der Brust herum. Sollen wir den Vogel abschießen?
Lässt sich der Rechtsruck aufhalten, indem wir die Nazis in der Öffentlichkeit unsichtbar machen? Ist die Demokratie in Sicherheit, wenn wir dafür sorgen, dass Nazis sich nur noch getarnt auf die Straße trauen oder nur noch im Dunkeln? Ist das mehr als eine Form der Gesellschaftskosmetik, die den schönen Schein und guten Ruf des deutschen Vaterlandes wahren soll? Was ist eigentlich verkehrt daran, Nazis auf den ersten Blick erkennen, identifizieren und nachzählen zu können? Gewiss, ihr öffentliches Auftreten schüchtert ein und wirkt bedrohlich besonders auf jene, die zu ihren bevorzugten Opfern gehören. Aber gefährlich sind Nazis immer, vielleicht sogar besonders dann, wenn man ihnen ihre Gesinnung nicht auf den ersten Blick ansieht. Oder sind die Nazis harmloser geworden, seit sie keine Springerstiefel und Bomberjacken mehr tragen?
In früheren Jahrhunderten galt eine Einheit der Armee, die im Kampf mit dem Feind ihre Fahne einbüßte, als besiegt. Aber heute werden Schlachten anders geschlagen und Siege anders errungen. Der Kampf um Symbole in der Öffentlichkeit ist auch heute noch wichtig. Aber wer glaubt, er sei entscheidend, der verwechselt symbolische Triumphe mit wirklichen. Über den braunen Rost wird bunte Farbe gepinselt. Mir scheint es fast, als wäre der Sieg über die Reichsfahne ein falscher Trost in Zeiten, in denen der Rückschritt tatsächlich enorme Fortschritte macht. Fast alle Parteien trommeln laut für den symbolischen „Kampf gegen rechts“. Still kapitulieren sie derweil politisch vor vielen rechten Forderungen. Während die sich nun in die Gesetzestexte fressen, starren wir auf Textilien.
Foto: Amac Garbe