01. Juni 2021
Kolumne von Michael Bittner
Es fängt schon einmal schlecht an: „Mit diesem Buch positioniere ich mich in einem politischen Klima, in dem cancel culture an die Stelle fairer Auseinandersetzung getreten ist. Ich tue das in dem Wissen, dass ich nun ebenfalls ‚gecancelt‘ werden könnte.“ Und es kam, wie es kommen musste: Die gecancelte Sahra Wagenknecht steht mit ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ an der Spitze der Bestsellerliste und darf ihre verbotenen Thesen in Talkshows und auf Titelseiten präsentieren. Aber ärgern wir uns nicht über den Marketingtrick der Selbstveropferung, auf den so viele Deutsche immer noch zuverlässig hereinfallen. Hören wir, was Sahra Wagenknecht uns zu verkünden hat.
Deutschland sei eine zerrissene Gesellschaft. Schuld daran sind nach Wagenknecht aber nicht nur die neoliberalen Marktradikalen mit ihrer Politik des Sozialabbaus. Auch die politische Linke habe versagt, denn sie habe sich auf einen „Linksliberalismus“ eingelassen, der in Wahrheit weder links noch liberal sei. Der „Lifestyle-Linke“ kümmere sich nicht um die kleinen Leute und sei überdies intolerant. Sein Steckenpferd sei die „Identitätspolitik“, die einen großen „Bohei“ um „immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten“ mache, statt sich um die Probleme der arbeitenden Mehrheit zu kümmern. Wie immer bei Wagenknecht findet sich zwischen Fragwürdigem auch Richtiges: Es gibt im städtisch-akademischen Milieu ohne Zweifel Leute, die sich moralisierend über andere erheben, Sprach- und Symbolpolitik heillos überschätzen und sich für die Emanzipation von ethnischen, kulturellen und sexuellen Minderheiten begeistern, um die Frage der ökonomischen Ungleichheit aber nicht kümmern. Inzwischen vermarkten sich selbst rücksichtslose Kapitalisten mit den Schlagworten „Vielfalt“ und „Weltoffenheit“.
Wagenknecht begeht in ihren Tiraden jedoch eben die Fehler, die sie selbst den „Lifestyle-Linken“ vorwirft: Sie produziert Klischees, um Menschen in „Schubladen“ sortieren zu können. Sie beklagt die „Spaltung“ und spaltet. Sie gibt zu, dass viele „Linksliberale“ zugleich für die Gleichstellung von Minderheiten und soziale Gerechtigkeit kämpfen, doch diese Exemplare seien nicht „typisch“ für die Gattung – ein prächtiger Zirkelschluss. Um sich selbst große Zustimmung zu sichern, konstruiert Wagenknecht mit dem Popanz „Lifestyle-Linker“ ein Feindbild, das möglichst vielen Deutschen widerwärtig sein soll. Ihr „Linksliberaler“ ist gebildet, wohlhabend, arrogant, wurzellos, nomadisch, verlogen, feige und egoistisch. Er will die nationale Souveränität zersetzen, um Deutschland mit Migranten zu fluten und es dem internationalen Finanzkapital auszuliefern. „Weltbürgertum“ sei nur „Verantwortungslosigkeit gegenüber den Menschen im eigenen Land“, so Wagenknechts plumpe Unterstellung. Seltsam bekannt kommt einem dieses Feindbild vor. In der Tradition der Rechten hieß es früher „der Jude“, heute ist es „der Globalist“.
Sahra Wagenknecht tadelt die „Identitätspolitik“ nicht, um Individuen gegen den Zwang zur Identität zu schützen, was lobenswert wäre. Im Gegenteil: Sie predigt stattdessen ihre eigene Identitätspolitik, der die „nationale Identität“ über alles geht. Sie macht sich über „Safe Spaces“ an Universitäten lustig und ruft zugleich nach dem Nationalstaat als „Schutzraum“. Sie wirft den postmodernen Theoretikern vor, die objektive Wahrheit zu missachten, aber lobt selbst die gemeinschaftsstiftende Kraft von nationalen „Erzählungen“, selbst dann, wenn es sich nur um „Mythos“ handelt. Sie lästert über gefühlsgesteuerte Politik, aber fordert „Anerkennung“ für nationale Gefühle. Wagenknecht, die in grauer Vorzeit einmal Marxistin gewesen sein soll, behauptet, erst Patriotismus mache Solidarität möglich, als wäre er nicht vielmehr schlechter Ersatz und Mittel der Herrschenden, ihre Untergebenen gehorsam und fleißig zu halten. Wagenknechts letzte Antwort auf alle Fragen lautet: Deutsche zuerst! Ihr „Wir“ umfasst nur die eigene „Nation“. Sie preist als Solidarität an, was tatsächlich ein kollektiver Egoismus ist, der unvermeidlich nicht nur zu Konflikten zwischen Staaten führt, sondern auch die Menschen innerhalb einer Bevölkerung entsolidarisiert. Wer kein Mitgefühl für Fremde hat, hat es auch nicht für den deutschen Nachbarn.
Sahra Wagenknecht ist nicht deswegen eine so fatale Figur, weil sie immer unrecht hätte, sondern weil sie ein instrumentelles Verhältnis zur Wahrheit pflegt. Was nicht passt, wird passend gemacht. Ohne Rücksicht auf Verluste muss die Migration zum Grundübel stilisiert werden, indem ihre Nachteile aufgeblasen, ihre Vorteile kaum erwähnt werden. Zuwanderung von Gebildeten sei schlecht, weil sie den Herkunftsländern schade. Zuwanderung von Ungebildeten sei schlecht, weil sie die armen Deutschen unter Druck setze. Schlussfolgerung: Zuwanderung ist immer schlecht. Und stets sind es die nationalen Interessen, die Wagenknechts Urteil bestimmen, die Wünsche und Ansprüche der Migranten kommen bei ihr schlicht nicht vor. Ausländer stünden nun einmal in Konkurrenz zu deutschen Arbeitern, so Wagenknecht. Das stimmt, aber stehen nicht alle Arbeiterinnen und Arbeiter in Konkurrenz zueinander? Wäre es nicht Aufgabe der Linken, diese Konkurrenz für alle aufzuheben oder zumindest zu entschärfen? Das aber kann Wagenknecht nicht wollen, denn ihre Maxime lautet: Mehr Wettbewerb, mehr Leistung, mehr Wachstum! Sie glaubt, den Kapitalismus zähmen zu können, indem sie ihn in nationale Grenzen sperrt, und geißelt deswegen umso eifriger die „Globalisierung“.
Der Erfolg dieses Buches ist kein Wunder: Sahra Wagenknecht liefert dem deutschen Kleinbürger neue Argumente für seinen Glauben, er sei das eigentliche Opfer der Weltgeschichte und habe deswegen alles Recht, zuerst an sich selbst zu denken und den Fremden zum Teufel zu jagen. Sie malt eine goldene Vergangenheit, in der tüchtige Arbeiter und ehrliche Unternehmer noch in Frieden miteinander die blonde Scholle bestellten. Befriedigt wird hier die uralte deutsche Sehnsucht nach der inzestuösen Harmonie und muffigen Viehherdenwärme der Volksgemeinschaft.
Foto: Amac Garbe