03. April 2022
Kolumne von Ruprecht Polenz
Seit 39 Tagen beschießt russische Artillerie ukrainische Städte, werden Wohnquartiere, Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser in Mariupol, Charkiv oder Tschernihiv von der russischen Luftwaffe bombardiert und von russischen Raketen getroffen.
Russische Soldaten plündern. Sie vergewaltigen ukrainische Frauen. Vier Millionen Menschen sind auf der Flucht.
Ukrainerinnen und Ukrainer werden gewaltsam und gegen ihren Willen in sog. „Filtrationslager“ nach Russland deportiert. In den eroberten Gebieten errichten russische Sicherheitskräfte ein Terrorregime.
Die Nachrichten lassen sich – wie immer gesagt wird – nicht unabhängig überprüfen. Auch weil Russland alles unternimmt, die Wahrheit über diesen Krieg zu unterdrücken. Aber es gibt zahllose Berichte wie diesen, die unabhängig voneinander den russischen Angriffskrieg genau so beschreiben.
Während wir uns also ein einigermaßen zutreffendes Bild von dem Krieg machen können, sieht das für die Menschen in Russland ganz anders aus. Sie leben buchstäblich in einer anderen Welt, in der Putins Propaganda ihre Gehirne gefangen hält. Das staatliche Fernsehen sendet seit vielen Jahren nur, was der Kreml vorgibt. Die Presse ist inzwischen komplett gleichgeschaltet.
Zwar haben über 7000 russische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einem offenen Brief gegen den Krieg protestiert. Es gab Intellektuelle und Kunstschaffende, die sich deutlich gegen den Krieg geäußert haben. Und viele Tausend sind mutig in St. Petersburg, Moskau und anderen Städten gegen den Krieg auf die Straße gegangen.
Aber das darf nicht darüber hinweg täuschen, dass es sich dabei um eine kleine Minderheit in der russischen Gesellschaft handelt. Die große Mehrheit glaubt Putins Lügen über den Krieg, weil sie durch die staatlichen Medien nichts anderes erfährt.
Anfang März stimmten beide Kammern des russischen Parlaments für ein Gesetz, durch das die Weitergabe von „falschen Berichten“ zur Straftat wird. Und „falsch“ ist alles, was der offiziellen Kreml-Propaganda widerspricht. Deshalb dürfen Begriffe wie „Angriff“, „Invasion“ oder „Krieg“ nicht benutzt werden, um das russische Vorgehen gegen die Ukraine zu beschreiben. Bei Zuwiderhandlungen drohen bis zu 15 Jahre Haft. Es muss von einer „militärischen Sonderoperation“ gesprochen werden.
Deshalb hat als letzte unabhängige Zeitung die Nowaja Gazeta ihr Erscheinen eingestellt. Ihr Chefredakteur, der Friedensnobelpreis-Träger Dmitri Andrejewitsch Muratow, wollte damit einem Verbot zuvorkommen.
Die Russinnen und Russen bekommen im staatlichen Fernsehen zwar auch Bilder des zerbombten Mariupol zu sehen. Schließlich muss die russische Propaganda davon ausgehen, dass solche Bilder im Internet kursieren und dass das Fragen auslösen könnte. Die im russischen Fernsehen ausgestrahlte Erklärung: Die zerstörten Wohnhäuser hätten ukrainische Nazis auf dem Gewissen, die skrupellos gegen die in Mariupol lebenden Russinnen und Russen vorgingen.
Damit knüpft die russische Propaganda an die Lügen an, die Putin dem russischen Volk schon seit Jahren eingehämmert hat: In Kyjiv seien Faschisten und Nazis an der Macht. Den Russen in der Ukraine, vor allem in den „befreiten Gebieten“ Donezk und Luhansk, drohe ein Völkermord.
Man kann sich vorstellen: wer diese Geschichte glaubt, findet es absolut notwendig, dass Putin mit einer „begrenzten militärischen Spezialoperation“ den von Ausrottung bedrohten Landsleuten zu Hilfe kommt. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Unterstützung für Putin in der russischen Bevölkerung seit Beginn des Krieges gewachsen ist.
Auch wenn man Meinungsumfragen in Diktaturen mit großer Vorsicht genießen muss, weil die Befragten der zugesagten Anonymität misstrauen und vorsichtig sind, das Regime zu kritisieren, sollte man die Zahlen des nicht-staatlichen Meinungsforschungsinstituts Levada ernst nehmen, wonach jetzt über 70 Prozent die Politik Putins unterstützen.
Daran ändern auch die Sanktionen bisher nichts. Eher im Gegenteil. In den Augen der russischen Fernsehzuschauer:innen bestätigen die Sanktionen Putins Lüge, wonach der Westen und die NATO darauf aus seien, Russland zu zerstören. Es sei wie immer in der russischen Geschichte: schon im Großen Vaterländischen Krieg gegen Nazi-Deutschland sei man auf sich allein gestellt gewesen. Wie gegen Napoleon habe man gesiegt.
Und wenn jetzt IKEA oder McDonalds schließen – was soll’s. Russische Möbel seien eh besser und ohne ungesundes Fast-Food gehe es auch.
Diese Stimmung mag sich ändern, wenn die Sanktionen in der ganzen Breite ihre Wirkung entfalten. Vor allem, wenn alle Demokratien aufhören würden, weiterhin russisches Öl und Gas zu beziehen. Denn mit diesen Einnahmen finanziert Russland über ein Drittel des Staatshaushalts.
Aber diese Wirkungen treten nicht sofort, sondern erst in einigen Monaten ein. Man darf deshalb jetzt keinen Stimmungsumschwung in Russland erwarten, der Putin in Verhandlungen zwingen würde, um den Krieg zu beenden.
Umso wichtiger ist es, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen, damit sie sich gegen die russischen Aggressoren wehren kann. Nur militärischer Misserfolg von Putins Angriffskrieg, drohender wirtschaftlicher Ruin und internationale Isolierung Russlands können den Krieg beenden.
Foto: Kai-Uwe Heinrich TSP