Rechte gegen Menschenrechte

Rechte gegen Menschenrechte

07. September 2021

Kolumne von Michael Bittner

Ich war im Mai klüger als Heiko Maas. Aber das ist zugegebenermaßen nicht schwierig, denn eine halbleere Dose Thunfisch ist klüger als Heiko Maas. In meiner Kolumne hatte ich damals vor dem höchstwahrscheinlichen Sieg der Taliban in Afghanistan gewarnt und die Bundesregierung aufgefordert, keine Menschen mehr in das Kriegsland abzuschieben. Die Mächtigen haben mal wieder nicht auf mich gehört. Heiko Maas rechnete noch vor einigen Wochen nicht damit, dass die Taliban in Kabul bald die Macht ergreifen. Die Bundesregierung stoppte nicht nur die Abschiebungen lange nicht, es gelang ihr nicht einmal, die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter rechtzeitig aus Afghanistan zu retten. Nun ist das Wehklagen groß und die Regierenden versichern, man habe das schreckliche Geschehen ja nicht ahnen können. Man möchte Ohrfeigen verteilen, aber vermutlich wären Leibwächter im Weg.

Das Desaster von Afghanistan hat, von den menschlichen Katastrophen abgesehen, auch fatale politische Folgen. Wie schon in Syrien, im Irak und in Libyen, hat sich auch in Afghanistan gezeigt, dass es unmöglich ist, mit einer militärischen Intervention eine Demokratie westlichen Typs in einem Land einzuführen, dessen Bevölkerung noch keine moderne Zivilgesellschaft besitzt und in verfeindete ethnische und religiöse Gruppen zerfällt. „Die ausgefallenste Idee, die im Kopf eines Politikers entstehen kann, ist die Vorstellung, es würde für ein Volk genügen, mit Waffengewalt bei einem anderen einzudringen, um es zur Annahme seiner Gesetze und seiner Verfassung zu bewegen. Niemand liebt bewaffnete Missionare; und das erste, das Natur und Klugheit einem eingeben, ist, die Eindringlinge wie Feinde abzuwehren.“ So sprach sich einst der französische Revolutionär Robespierre gegen den Versuch aus, die Revolution mit Waffengewalt in andere Länder zu exportieren – leider ebenfalls vergeblich.

Es wäre nun an der Zeit, darüber nachzudenken, wie man Demokratie in der ganzen Welt fördern könnte, ohne zum schmutzigen und nutzlosen Mittel des Krieges zu greifen. Der sogenannte „Westen“ könnte sich zum Beispiel selbstkritisch fragen, warum er Menschenrechte nur selektiv einklagt. Warum kann man ein glänzendes Geschäft mit den Islamisten in Saudi-Arabien machen, während man sie andernorts unerträglich findet? Wieso unterstützt man rechte Putschisten in Südamerika, während man Wladimir Putin für seine autoritäre Regentschaft anprangert? Diese Doppelmoral ist es, die den Verdacht nährt, der Westen nutze die Idee der Menschenrechte bloß zu Propagandazwecken, immer dann, wenn es darum geht, ökonomische oder strategische Interessen gegen globale Konkurrenten durchzusetzen.
Die Idee der Menschenrechte selbst wird durch solche Verlogenheit angefressen. Es freuen sich die Rechten, die schon immer geleugnet haben, dass es so etwas wie eine Menschheit überhaupt gibt. In ihren Augen existieren nur unterschiedliche Völker und Kulturen, die einander überhaupt nicht verstehen können, keinesfalls mischen dürfen und auch nicht helfen brauchen. Aber auch einige verirrte und kurzsichtige Linke halten das Konzept der Menschenrechte für nichts als kolonialistische Propaganda und frohlocken über Niederlagen des Westens selbst dann, wenn sie mit dem Triumph der Barbarei verbunden sind.

Die Leute in den Diktaturen des Ostens oder in der islamischen Welt wollen ja gar keine Demokratie, so heißt es mancherorts, sie seien schon völlig zufrieden. Dem ist zu entgegnen: Solange nicht alle Menschen in diesen Ländern gleichberechtigt und ohne Angst über ihr gesellschaftliches Leben sprechen und entscheiden können, weiß überhaupt niemand, was sie wirklich wollen. Nach allem, was uns über uns selbst als Menschen bekannt ist, können wir aber mit Sicherheit sagen: Niemand möchte umgebracht oder gefoltert werden. Niemand möchte wegen einer politischen Meinung eingesperrt oder wegen eines Glaubens verfolgt werden. Niemand möchte aus seinem Haus vertrieben werden, niemand möchte verhungern. Es sind Grundbedingungen des menschenwürdigen Daseins, die sich in den Forderungen der Menschenrechte aussprechen, nicht Privilegien westlicher Lebensart. Wer von „westlichen Werten“ spricht statt von Menschenrechten, hat vor den rinken und lechten Kulturrelativisten schon kapituliert.

Foto: Amac Garbe

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