11. Oktober 2020
Kolumne von Robert Fietzke
Weit, weit entfernt scheint die Zeit des Beginns der Corona-Pandemie, als Politik und Gesellschaft die Virologie entdeckten, den Stellenwert von Wissenschaft wiederfanden und Männer zum ersten Mal in ihrem Leben lernten, sich regelmäßig die Hände zu waschen. Als interessierte Beobachter*innen des Zeitgeschehens noch frohlockten, dass die sich andeutende Krise doch eine große Chance sei, denn im Reigen des kollektiven Kampfes gegen den äußeren Feind, der mit seiner Armee an unsichtbaren Aerosolen überall eindringt und die menschliche Existenz bedroht, schlössen sich die Menschen endlich wieder zusammen, rückten alle etwas näher an das wärmende Feuer des gesellschaftlichen Zusammenhalts, ja, überwänden so manch gesellschaftlichen Graben, der in den letzten Jahren tiefer wurde. Endlich wieder Zeit für Besinnliches. Entschleunigung. Spazieren gehen. Balkon-Applaus!
Pustekuchen.
Statt des Glücksversprechens einer solidarischer gewordenen Gesellschaft klauten Leute Klopapier aus anderen Einkaufswagen, lieferten sich Schlägereien, um an das neue Luxusgut zu gelangen, und horteten es, als müssten sie die nächsten zwei Jahre im Bunker zubringen. Statt im wahrsten Sinne des Wortes zusammenzuwachsen, also an der gemeinsamen Herausforderung zu wachsen, haben wir nun die „Querdenker“ an der Backe, die nun nicht mehr nur das Netz mit ihren gefährlichen, vor Antisemitismus triefenden Verschwörungsideologien fluten, sondern auch die Straßen. Wer hätte sich noch vor einem Jahr vorstellen können, dass Leute, die allen ernstes behaupten, die (jüdische) Welt-Elite würde Kinder entführen, um ihr Blut zu trinken – die moderne Variante der Jahrhunderte alten, ultra-antisemitischen Ritualmord-Legende – sich zu Zehntausenden in der Hauptstadt versammeln, zu „Ein bisschen Frieden“ tanzen, um im nächsten Moment mit wehenden Reichskriegsflaggen und dem Smartphone in der Hand die Treppen des Reichstagsgebäudes zu „erstürmen“? Und wer ist eigentlich Michael Wendler?
Der neue deutsche Revolutionär bekommt einen Adrenalin-Kick, wenn er ein Geschäft demonstrativ und stolzen Blickes ohne Mund-Nasen-Schutz betritt. Seht her, ihr Schlafschafe, ich bin im Widerstand! Ich kämpfe an vorderster Front, uns alle aus den Ketten der Corona-Diktatur zu befreien! Das muss er sein, der neu erwachte furor teutonicus, und er hat sogar schon internationale Widerstandsgruppen gebildet wie jüngst auf Mallorca, als etwa 400 Deutsche, die meisten von ihnen Resident*innen, gegen die Infektionsschutz-Maßnahmen demonstrierten. Spanien gehört mit 33.000 Toten übrigens zu den am stärksten betroffenen Ländern in Europa.
All das wäre an Lächerlichkeit kaum zu überbieten, wäre es nicht gleichzeitig so ernst. Immer mehr Menschen halten sich nicht an die Regeln zur Eindämmung der Pandemie und immer mehr tun das bewusst. Auch die Zahl derer, die sich im Falle der Verfügbarkeit eines Impfstoffs nicht impfen lassen würden, ist in den letzten Monaten sukzessive auf 33% gestiegen. Die konformistische Rebellion der „Querdenker“ trägt bereits Früchte, auch wenn die grundsätzliche Übereinstimmung mit den Maßnahmen innerhalb der Bevölkerung mit knapp 90% noch immens groß ist. Die transportieren Verschwörungsideologien, die Demokratiefeindlichkeit, der krasse Antisemitismus, sind für sich genommen eine große, eine tödliche Gefahr, und in ihrem Windschatten geschieht noch etwas anderes von großer Gefährlichkeit: Die Verbreitung eines neuen Feindbilds, nämlich das des „Maskenträgers“. Bei den letzten Demonstrationen war das schon deutlich zu beobachten, sodass Journalist*innen zum Teil unfreiwillig auf eine Maske verzichteten, eben um sich nicht verdächtig zu machen. Es ist aber auch im Alltagserleben spürbar, wenn Menschen andere darauf hinweisen, dass sie bitte eine Maske aufsetzen sollen, und daraufhin aggressiv angegangen werden. In Frankreich wurde ein Busfahrer, der die Maßnahmen durchsetzen wollte, hirntot geprügelt. In alledem steckt ein großes Gewaltpotential und ich frage mich, was das für eine Gesellschaft ist, in der Menschen gefährlich leben, die sich einfach an die fucking Regeln zur Eindämmung eines real existieren Virus halten, das weltweit schon über eine Million Todesopfer gefordert hat?
Letztens schrieb mir einer Twitter-Userin in einen Druko: „Ich muss auch zugeben, dass mein emotionales Budget welches durch Alltagsrassismus und Sexismus schon hart belastet war jetzt komplett ausgereizt ist dadurch, dass Leute einfach keine paar Minuten ne fucking Maske tragen können oder rumlamentieren.“ Und ich finde, sie hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Diese Gesellschaft ist schon anstrengend genug, mit all ihren Kämpfen, Konflikten und Auseinandersetzungen, mit ihrer systematischen Diskriminierung, der viele Menschengruppen jeden Tag ausgesetzt sind. Da wirkt die fortschreitende Entsolidarisierung, die dieser neue faschistische Block massiv forciert, wie ein Brandbeschleuniger. Fakt ist, dass es beim Kampf gegen die Pandemie um weitaus mehr geht, als „nur“ die bestmögliche Eindämmung der Verbreitung des Virus. Es ist eine Belastungsprobe für die ohnehin schon zerrüttete Gesellschaft. Die entscheidende Frage dabei ist, ob wir nicht endlich mal den Kapitalismus überwinden wollen, der aus sozialen Wesen egoistische, rücksichtslose Arschlöcher macht, die sich einen Dreck für andere Menschen interessieren? Der Menschen dergestalt sozialisiert, sich vor allem für ihre eigenen Belange, den eigenen Mikrokosmos und das eigene Überleben zu interessieren,, ohne zu begreifen, dass die großen Menschheitsprobleme nur kollektiv gelöst werden können? Ich bin dringend dafür, denn sonst fliegt uns hier bald alles um die Ohren, spätestens, wenn sich zur Corona-Krise und zur beginnenden ökonomischen Krise noch die weitere Eskalation der Klima-Krise gesellt. Wer noch?
Foto: Robert Fietzke