04. Januar 2022
Im August 2021 ist ganz Afghanistan unter die Kontrolle der Taliban geraten. Tausende sind geflohen, doch viel mehr Menschen fürchten nun unter den Islamisten um ihr Leben. Sie wollen raus, doch es fehlt an Geld, an Infrastruktur und vor allem an politischem Willen Deutschlands, das 20 Jahre lang Krieg im Land geführt hat. Mission Lifeline ist nach Afghanistan gefahren, um die Geschichten jener zu hören, die zurückgelassen wurden.
Noch vor wenigen Monaten waren Mahmud* (Name geändert) und seine Familie wohl das, was man eine durchaus erfolgreiche, moderne und beispielhafte Familie nennen könnte. Der Vater ein Zahnarzt, der irgendwann in die Baubranche gewechselt ist und dort EU-finanzierte Infrastrukturprojekte im kriegsgebeutelten Afghanistan verwirklichte. Die Mutter, Professorin für Chemie an der Universität Kabul. Die eine Schwester, Journalistin, die andere in Deutschland wohnhaft. Mahmud selbst war mit seinen zarten 21 Jahren bereits als Softwareentwickler tätig, der jüngste Bruder Medizinstudent in Kabul. Von außen wie von innen betrachtet könnte man diese Familie aus der mittleren Oberschicht als Hoffnungsträger eines demokratischen und zukunftsgewandten Afghanistans beschreiben.
So sieht es auch Mahmud selbst: „Wir alle in der Familie wollten ein neues, freies, demokratisches und starkes Afghanistan aufbauen – mit allen anderen Afghanen gemeinsam, und zwar durch gute Bildung, durch Infrastruktur und durch Werte.“ Der Taliban ist die Familie seit Jahren ein Dorn im Auge. Denn diese Art von Fortschritt sowie eine enge Zusammenarbeit mit dem Westen lehnt sie ab. Schon 2012 erhalten sie die ersten Drohungen. Telefonanrufe, Briefe, unzählige davon, erzählt Mahmud. Die gesamte Familie möge Ihre Kooperation mit den „Nicht-Muslimen“ beenden und zu den Taliban wechseln, heißt es. 2021 erhalten sie folgenden Brief der Taliban, an den Vater der Familie adressiert, inklusive Briefkopf, Stempel und Unterschrift. Darin steht: „Sie haben uns verweigert. Und jetzt, da Sie nicht den Muslimen helfen, (…) sollten wir Ihnen eine Lektion erteilen. Ihre Familie wird nicht am Leben bleiben.“ Zu dem Zeitpunkt, so Mahmud, war die Situation trotz einer solch drohenden Gefahr ertragbar. „Wir hatten ja noch unsere Träume, unsere Arbeit, wir hatten Hoffnung in die Zukunft.“ In diesem kalten Januar, knappe fünf Monate nach der Machtübernahme der Taliban, sieht das ganz anders aus. „Unsere Träume sind begraben“, sagt er. „Es gibt nur den Istzustand, und da gilt es, am Leben zu bleiben.“
Wie das konkret aussieht, zeigen die Umstände unseres Treffens. Wir müssen zwei Tage vorher mit Mahmud einen sicheren Ort kommunizieren, damit er seinen Hin- und Rückweg planen kann. „Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich morgen das Haus verlassen kann“, heißt es am Tag davor. Dann klappt es doch, in einem Hinterhof hinter Stacheldraht. Eine Stunde nach dem Treffen kommt die Nachricht: „Ich bin wieder zu Hause.“
Durch den Abzug der internationalen Streitkräfte ist die Familie gebrochen. Neun Jahre Morddrohung könnten jeden Tag zur grausigen Realität werden. Warten darauf, dass irgendjemand ihnen hilft. Doch nicht alle wollen sich damit zufriedengeben. Sein jüngster Bruder, er ist bald 18 Jahre alt, will den gefährlich und illegalen Weg über den Iran, Türkei und das Mittelmeer auf sich nehmen. „Er will sein Schicksal selbst in die Hand nehmen“, sagt Mahmud, „er hält es nicht mehr aus.“ Die Familie lebt in einem fremden Haus. Sie verlassen es nur, um einzukaufen, „oder, wenn wir von einem Treffen wie diesem denken, es könnte uns vielleicht helfen“, sagt Mahmud. Obwohl die Schwester in Schleswig Holstein lebt – das Land hatte sich bereit erklärt, weitere gefährdete Personen aus Afghanistan aufzunehmen, – wurde ihrem Antrag nicht stattgegeben. Das Auswärtige Amt sah keine außergewöhnliche Bedrohungslage. Die Echtheit des Todesurteils wurde in Frage gestellt. Obwohl der Vater für die EU gearbeitet hat, obwohl die gesamte Familie jenes Bild von Moderne und Fortschritt erfüllt, das die Westmächte in Afghanistan zeichnen wollten, und obwohl sie ein unterschriebenes Todesurteil einer islamistischen Gruppierung haben, gegen die die deutsche Bundeswehr im Namen der Freiheit 20 Jahre lang gekämpft hat, dürfen sie nicht kommen. Nein, stattdessen müssen sie sich verstecken und draußen auf den Straßen zusehen, wie alles, wofür sie gekämpft haben, zerbricht.