Den Seenotrettungsschiffen RISE ABOVE von Mission Lifeline e. V. und SEA-EYE 4 von Sea-Eye e. V. wurde in der Nacht zum Dienstag, 02.11.2021, ein Notruf vom AlarmPhone weitergeleitet. Zeitgleich wurden die zuständigen Behörden informiert. Eine Reaktion der Behörden blieb bisher aus.
Die kleinere, schnelle RISE ABOVE erreichte den Seenotfall zuerst, versorgte die Menschen mit Rettungswesten und blieb vor Ort, bis die größere SEA-EYE 4 eintraf. Die Crew evakuierte die Menschen aus dem hochseeuntauglichen Schlauchboot und brachte sie an Bord der SEA-EYE 4. Schon während der ersten Rettung wurden den Rettungsschiffen mehrere, weitere Seenotfälle gemeldet. Bis zum Dienstagmorgen konnten die Crews beider Schiffe 325 Menschenleben von insgesamt 5 Booten retten. Dabei erwies sich die Zusammenarbeit beider Schiffe mit unterschiedlichen Eigenschaften als sehr wirksam. Während die RISE ABOVE doppelt so schnell ist und einen Unglücksort zügig erreichen kann, ist die SEA-EYE 4 in der Lage, viele Menschen an Bord zu nehmen und medizinisch in einem Bordhospital zu versorgen.
An Bord der SEA-EYE 4 befanden sich in dieser Nacht 325 Menschen; unter ihnen 152 Kinder und Minderjährige, 31 Frauen und 142 Männer. Zwei der Frauen sind schwanger. Auf der SEA-EYE 4 wurden die Menschen nun einem ersten medizinischen Check-up durch die Ärztin der Bonner Organisation German Doctors e.V., unterzogen, auf Covid-19 getestet und mit Nahrung und Trinkwasser versorgt.
„Wir sind glücklich, dass wir im ersten Einsatz mit unserem neuen Schiff zusammen mit der Crew der SEA-EYE 4 so viele Menschen retten konnten. Die spezifischen Stärken und Vorteile jedes der beiden Schiffe zu kombinieren, war für die Rettungen von unschätzbarem Vorteil”, so Axel Steier, Vorsitzender von Mission Lifeline e. V.
„Es gibt 5 Menschen mit schweren Verletzungen. Bis zu 10 Personen mussten heute länger im Hospital behandelt werden. Wir werden noch bis in die Nacht arbeiten und müssen noch rund 50 Menschen medizinisch versorgen. Viele der Geretteten sind sehr seekrank, was sich auch dadurch verschlimmert hat, dass viele Menschen Treibstoff eingeatmet haben, was zu schrecklicher Übelkeit und Erbrechen führte. Und es gibt viele Hautverbrennungen, die durch den mit Meerwasser vermischten Treibstoff verursacht wurden. Nicht zu vergessen sind ältere Wunden, die ebenfalls behandelt werden müssen, und psychisch traumatisierte Patienten”, sagt Bordärztin Daniela Klein von German Doctors e. V.
„Unter den Geretteten haben wir rund 150 Minderjährige und mehrere Familien mit Kleinkindern. 11 Kinder sind annähernd um die drei Jahre alt. Wären unsere Schiffe nicht rechtzeitig vor Ort gewesen, dann wären die Leben dieser Menschen dem Meer ausgeliefert geblieben. Wir sind dankbar, dass die Familien nun in den fürsorglichen Händen unserer Rettungskräfte sind”, sagt Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e. V.
Bis Mittwochmorgen hatten die Besatzungen beider Schiffe insgesamt 397 Menschen in 6 gemeinsamen Einsätzen gerettet. In der Nacht zum Donnerstag kam es dann zu einer weiteren, dramatischen Rettung von mehr als 400 Menschen aus einem überfüllten Holzboot.
Vorausgegangen war die Meldung eines Seenotfalls in der maltesischen Such- und Rettungszone, in der Malta für die Koordinierung von Seenotfällen verantwortlich ist. AlarmPhone veröffentlichte den Notruf u.a. auf Twitter. Fortlaufend informierte AlarmPhone die maltesische Rettungsleitstelle über neue Koordinaten und bat um Koordinierung der Rettung. Das RCC Malta reagierte jedoch auf keinen der Hilferufe. Die SEA-EYE 4 und die RISE ABOVE waren rund sechs Stunden vom Unglücksort entfernt.
Trotz der großen Entfernung und der Anzahl der Geretteten, die sich bereits an Bord der SEA-EYE 4 befanden, entschieden die Einsatzleiter*innen von Mission Lifeline und Sea-Eye, die von AlarmPhone an die europäischen Rettungsleitstellen übermittelten Koordinaten anzufahren, denn anderweitige Hilfe für die Menschen in akuter Lebensgefahr war nicht zu erwarten.
Die RISE ABOVE erreichte das Holzboot, das über zwei Ebenen verfügte, am Mittwochabend zuerst. Zu dem Zeitpunkt war bereits ein Leck im Boot, durch das Wasser eindrang. Mehrere Personen waren ohne Schwimmwesten im Wasser und mussten direkt aus dem Meer gerettet werden. Die SEA-EYE 4 traf kurze Zeit später ein. Die Teams versorgten die Menschen zügig mit Rettungswesten, beruhigten sie und stabilisierten zunächst die gefährliche Situation, denn ein so großes Holzboot kann leicht kentern, wenn Unruhe oder sogar Panik aufkommt. Medizinische Notfälle wurden zuerst auf die SEA-EYE 4 evakuiert. Eine Person konnte noch auf dem Rettungsboot auf dem Weg zur SEA-EYE 4 erfolgreich reanimiert werden. Die vollständige Evakuierung des Holzbootes konnte erst um Mitternacht abgeschlossen werden.
Es befinden sich nun mehr als 800 Menschen auf der SEA-EYE 4, die inzwischen Kurs auf Lampedusa genommen hat. Die italienische Insel ist nur wenige Stunden vom Unglücksort entfernt und so der am schnellste erreichbare, sichere Hafen.
Für die 24-köpfige Besatzung der SEA-EYE 4 kommt es nun zu einer noch nie da gewesenen Belastungssituation.
Das Rettungsschiff ist auf die schnelle Zuweisung eines sicheren Hafens angewiesen. Sea-Eye hat die Rettungsleitstelle in Rom bereits um die Zuweisung eines sicheren Hafens und das Auswärtige Amt um dringende Unterstützung gebeten, da Malta sich jeder Kommunikation verweigert.
Die RISE ABOVE wird die SEA EYE 4 bis zu deren Erreichen eines sicheren Hafens ständig begleiten und bei der Betreuung der Menschen an Bord helfen. Auch an diesem Tag war die enge Zusammenarbeit beider NGOs für den Erfolg der Missionen ausschlaggebend.
„Auf der SEA-EYE 4 herrscht nun der Ausnahmezustand. Jede Verzögerung durch die Behörden gefährdet die Gesundheit und das Leben der geretteten Menschen und unserer Besatzung. Es ist beschämend, wie Malta sich immer wieder seiner Verantwortung entzieht und Notrufe ignoriert”, sagt Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e. V.
„Das Verhalten der europäischen Behörden hat beinahe kriminelle Züge. Die Zuständigkeiten sind eindeutig und klar geregelt. Warum sich die Staaten nicht daran halten und wissentlich Menschen in Seenot im Stich lassen, kann nur mit mangelndem Verfolgungsdruck des internationalen Strafgerichtshofs zusammenhängen. Es wäre ein Leichtes, die Verantwortlichen persönlich zur Rechenschaft zu ziehen!“ so Axel Steier, Vorstand und Sprecher von MISSION LIFELINE e. V.
„Es ist erschütternd, wie viele Rettungen Sea-Eye und andere Organisationen in den letzten Tagen vornehmen mussten. Die Situation vor Ort ist dramatisch, da die Rettungskräfte an den Rand ihrer Belastung kommen und die Kapazitäten nicht mehr ausreichen. Wir brauchen Hilfe, damit alle Menschen, die gerade in Seenot sind, gerettet werden können. Das ist doch unsere gemeinsame moralische Verantwortung“, so Dr. Christine Winkelmann, Vorständin der German Doctors.
Fotos: Hermine Poschmann