10. August 2021
Kolumne von Michael Bittner
In Europa wird endlich mal wieder ein neuer Zaun gebaut, diesmal zwischen Litauen und Weißrussland. Menschen hatten die Grenze zwischen den beiden Staaten in den vergangenen Wochen überschritten, um Asyl in der EU zu beantragen. Dass die regierenden Politiker darauf mit Abschottung antworten, ist in der Festung Europa inzwischen üblich. Doch diesmal hatte es mit der Sache noch eine besondere Bewandtnis: Die Menschen, unter anderem aus dem Irak, werden offenbar vom weißrussischen Diktator Alexander Lukaschenko in sein Land eingeladen und dann über die Grenze gewiesen. Er will so die Europäische Union erpressen, die nach der gefälschten Wahl und der Niederschlagung von Oppositionsprotesten in Weißrussland Sanktionen gegen das Regime Lukaschenkos verhängt hatte.
Das Wehklagen der EU-Politiker ist groß. Aber was will man Lukaschenko vorwerfen? Dass er nicht blind und dumm ist? Wie leicht man die EU erpressen kann, ließ sich ja ohne große Mühe erkennen, als der türkische Sultan Erdogan mit der Drohung, Geflüchtete aus Syrien über die Grenze zu lassen, Milliarden als Behaltegeld aus dem Westen ergatterte. Er wird noch einige Nachahmer finden, die Hilflosigkeit der EU ist einfach zu verlockend. Dass man den westlichen Staaten mit Menschen drohen kann, liegt allerdings nur daran, dass dort Menschen inzwischen als Bedrohung empfunden werden. Selbst ein paar Tausend Leute, die durch litauische Birkenwälder irren, gelten als höchst gefährlich. Sie auf die EU-Staaten zu verteilen, dürfte schwierig werden, denn Humanität gilt längst als Zeichen von Schwäche.
Aus Brüssel tönt es: Welch barbarischer Akt, Menschen als Waffe einzusetzen! Wird Lukaschenko womöglich demnächst Migranten mit Kanonen auf Vilnius und Warschau schießen? Bevor wir uns mit dieser Schreckensvision beschäftigen, müssen wir noch eine unangenehme Tatsache erwähnen: Wenn es darum geht, Flüchtende für eigene Zwecke zu benutzen, ist auch der Westen nicht schüchtern. Die sonst scharf bewachte Grenze des Vereinigten Königreiches steht zum Beispiel plötzlich offen, seit es darum geht, politische Flüchtlinge aus Hongkong aufzunehmen. Die haben aber, verglichen mit anderen, auch einige Vorteile: Sie sind meist jung, nicht arm und bestens ausgebildet für einen raschen Einsatz in der britischen Wirtschaft. Und den globalen Konkurrenten China kann man mit ihrer Aufnahme sehr ärgern. Ähnlich läuft es auch im Fall Weißrusslands. In der sonst in Migrationsfragen nicht übermäßig offenherzigen Zeitung „Die Welt“ durfte der Arbeitsökonom Frank Hoffer den europäischen Politikern empfehlen, die Grenzen zu öffnen: „Die Abwanderung von Spezialisten und Fachkräften dürfte die belarussische Volkswirtschaft stärker und nachhaltiger treffen als alle anderen Wirtschaftssanktionen.“
Flüchtende haben im Westen noch immer eine Chance – wenn sie sich als Instrument dazu eignen, den eigenen Profit zu mehren oder den Feind zu schwächen. Die europäischen Politiker haben die Moral also keineswegs ganz vergessen. Sie fällt ihnen schon noch ab und zu ein, immer dann, wenn es gerade nützlich ist, sich an sie zu erinnern.
Foto: Amac Garbe