12. Oktober 2021
Kolumne von Robert Fietzke
„Dazusitzen, in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie eine größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich Leid es ihnen tue, dass sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde Erfahrung. […] Ich hatte Lust, aufzustehen und sie alle anzuschreien: Wisst ihr denn nicht, dass diese verdammten ‚Zahlen‘ menschliche Wesen sind, Menschen, die den Rest ihres Lebens in Konzentrationslagern oder auf der Flucht rund um den Erdball verbringen müssen wie Aussätzige, wenn ihr sie nicht aufnehmt?“
Dieser Satz stammt von Golda Meir, der ehemaligen Ministerpräsident Israels. Er bezieht sich auf die Evian-Konferenz im Juli 1938, die auf Initiative von US-Präsident Franklin D. Roosevelt Vertreter von 32 Staaten im französischen Evian versammelte, um nach vielen Jahren der Entrechtung und gezielten Verfolgung jüdischer Menschen in Deutschland deren Aufnahme in anderen Ländern zu diskutieren. Im Verlauf der Konferenz wurde jedoch schnell deutlich, dass es den allermeisten Teilnehmerländern vorrangig darum ging, ihrerseits auf ihr angebliches [Zitat] „Judenproblem“ hinzuweisen. Vertreter verschiedener Staaten erklärten, ihr Land sei ja grundsätzlich „kein Einwanderungsland“ und könne, wenn überhaupt, lediglich den Transit jüdischer Emigranten zulassen. Andere wiederum wurden nicht müde, zu behaupten, die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge würde den Antisemitismus im eigenen Land erhöhen. Die Konferenz blieb letztlich ergebnislos.
Vier Monate später, im November 1938: In einem geplanten Pogrom, das die Nazis verhöhnend „Reichskristallnacht“ nannten, zündete der deutsche Mob über 1000 Synagogen an, zerstörte jüdische Friedhöfe und Geschäfte und ermordete etwa 400 Jüdinnen und Juden. Zehntausende Menschen wurden in Konzentrationslager deportiert. Es war der Auftakt zu noch größerem Grauen. Die Staatengemeinschaft hätte das vielleicht nicht verhindern können, aber sie hätte hunderttausende Menschen vorher und auch nachher retten können. Sie hätte diese Menschen retten müssen. Zum Beispiel diese:
„Ich bin gezwungen, mich um eine Emigration zu kümmern, und soweit ich sehen kann, sind die USA das einzige Land, in das wir gehen können. Du bist der einzige Mensch, den ich fragen kann: Wäre es Dir möglich, eine Kaution zu meinen Gunsten zu hinterlegen? Ich würde Dich nicht fragen, wenn die Umstände hier mich nicht dazu zwängen, alles Menschenmögliche zu unternehmen, um Schlimmeres zu verhindern. Wir sorgen uns vor allem um das Schicksal unserer Kinder. Unser eigenes ist weniger wichtig.“
Diese Zeilen stammen von Otto Frank, dem Vater von Anne Frank. Er schrieb sie am 30. April 1941 dem Leiter der US-Wohnungsbaubehörde, zu dem die Familie Frank freundschaftliche Beziehungen pflegte. Zu diesem Zeitpunkt waren die Niederlande bereits von Nazi-Deutschland besetzt. Je weiter der Krieg voranschritt, je restriktiver handhabten die wichtigsten Zielländer jüdischer und anderer Emigrant*innen ihre Einwanderungspolitik. In einem Memorandum des US-Außenamtes aus dem Jahr 1940 heißt es:
„Wir können die Zahl der Einreisenden reduzieren und den Flüchtlingsstrom effektiv stoppen. Wir müssten dazu nur unsere Konsuln veranlassen, [den Antragstellern] jedes mögliche Hindernis in den Weg zu legen, zusätzliche Unterlagen zu verlangen und sich auf den Verwaltungsapparat zu berufen. Das würde die Vergabe von Visa verzögern und verzögern und verzögern.“
Die USA hatte damals eine Obergrenze von jährlich 27.000 Jüdinnen und Juden aus Deutschland und Österreich festgelegt. Zum Vergleich: Anfang 1939, in der Zeit nach den Novemberpogromen, waren es bereits ca. 300.000, die Ausreisegesuche in die USA stellten. Die allermeisten waren also chancenlos. Das Schicksal der Familie Frank und insbesondere von Anne Frank – Die Meisten sind damit vertraut. Als einziger überlebte Otto Frank die Shoa.
„Im Menschen ist nun mal ein Drang zur Vernichtung, ein Drang zum Totschlagen, zum Morden und Wüten, und solange die ganze Menschheit, ohne Ausnahme, keine Metamorphose durchläuft, wird Krieg wüten, wird alles, was gebaut, gepflegt und gewachsen ist, wieder abgeschnitten und vernichtet, und dann fängt es wieder von vorne an.“ schreibt Anne Frank am 3. Mai 1944 in ihr Tagebuch.
Hätte es diese Obergrenze, diese relative Abschottungspolitik nicht gegeben, Anne Frank wäre wahrscheinlich nicht mit 15 Jahren im KZ Bergen-Belsen ermordet worden. Sie könnte vielleicht noch leben. Sie wäre eine 92-jährige Frau und wer weiß, was dieser Mensch der Welt noch zu sagen gehabt hätte?
Es wäre falsch, ahistorisch und gefährlich, das, was heute in der Welt passiert, mit dem gleichzusetzen, was vor über 80 Jahren geschehen ist. Es geht um bestimmte historische Parallelen. Es geht um geschichtliche Kontinuitäten im Handeln von Nationen und Staatengemeinschaften gegenüber Menschen in Not, gegenüber Schutzsuchenden.
In diesem Jahr feiert die Genfer Flüchtlingskonvention, das wichtigste Dokument für den internationalen Flüchtlingsschutz, ihr 70-jähriges Bestehen. Sie definierte erstmalig die Flüchtlingseigenschaft, legte also fest, wer ein Geflüchteter ist. Sie ist, zusammen mit der Allgemeinen Charta der Menschenrechte, eine direkte Folge und historische Lehre aus den Menschheitsverbrechen Nazi-Deutschlands. Nie wieder sollte es zu einer Situation kommen, dass Menschen, die vor faschistischem Terror, Verfolgung und Krieg fliehen, nicht gerettet werden können, weil es keine rechtlich (einigermaßen) bindenden Grundlagen dafür gäbe. Was ist davon geblieben?
Militärische Abriegelung. Frontex. Drohnen über dem Mittelmeer. Abschottung. Tränengas gegen Menschen auf der Flucht. Schmutzige Deals mit Autokraten, die ihrerseits Millionen Schutzsuchende als „Erpressungsmasse“ benutzen. Grundrechtsabbau. Entrechtung. Abschiebungen. Uniformierte Sonder-Einheiten, die schutzsuchende Menschen verprügeln. Große Lager an den Außengrenzen, die Haftanstalten gleichen. Isolation. Mutwilliges Ertrinkenlassen Tausender im Mittelmeer. Illegale Pushbacks, in fleißiger Kooperation mit kriminellen Regimen und deren „Küstenwache“. Menschen, die auf schwimmenden Plattformen im Meer ausgesetzt werden. Menschen, die auf europäischem Boden in polnischen Wäldern verhungern und verdursten, während gleichzeitig hunderte Soldaten zur „Flüchtlingsabwehr“ mobilisiert werden. Rassistische Brandanschläge. Rechter Terror. Pogrome. Zäune. Mauern. Ratten, die Kinderfüße in Elendslagern anfressen. Alles auf europäischem Boden.
Das UNHCR schreibt: „Auch 70 Jahre nach der Verabschiedung ist die Genfer Flüchtlingskovention so relevant wie nie für den globalen Flüchtlingsschutz und steht verstärkt unter Druck.“
Wahrscheinlich ist das noch eine Untertreibung. Die Rechte von Menschen auf der Flucht stehen nicht nur unter Druck, sondern unter Dauerbeschuss. Unter dem Eindruck eines völkisch-nationalistischen Roll-Backs und der Etablierung extrem rechter Parteien in vielen Ländern Europas schränken zumeist konservative, aber auch sozialdemokratische und liberale Regierungen den Zugang zu Grund- und Menschenrechten immer weiter ein und arbeiten gleichzeitig beständig daran, die Außengrenzen weiter zu militarisieren. Als ließe sich durch die Übernahme rechtsextremer Forderungen das Problem des aufsteigenden Rechtsextremismus in den Griff bekommen. Das Gegenteil ist der Fall. Die sogenannte Mitte wird zum Erfüllungsgehilfen der extremen Rechten – Und damit selbst immer rechter.
Am Beispiel des Afghanistan-Desasters zeigt sich am Deutlichsten, wie weit sich die sogenannte „westliche Wertegemeinschaft“ von ihren eigenen moralischen und rechtlichen Grundsätzen verabschiedet hat. Menschen, die für die NATO-Mächte gearbeitet und dafür ihr Leben riskiert haben, werden eiskalt im Stich gelassen. Statt Verantwortung für 20 Jahre Krieg zu übernehmen und möglichst viele von diesen Menschen zu retten, wurde verzögert, verschleppt und verhindert. Spätestens im Juni hätte Deutschland damit beginnen können und müssen, die sogenannten Ortskräfte und ihre Familien auszufliegen. Es hätten unbürokratische Lösungen gefunden werden können. Stattdessen wurde weiterhin verlangt, dass Menschen zum Beispiel ihre Sprachprüfung noch vor Ort ablegen, als wäre irgendein Sprach-Zertifikat wichtiger als ihr Leben zu retten. Der deutschen Bürokratie war das aber wichtiger. Das konkrete Ergebnis dieser Prioritätensetzung konnten und können wir aus der Ferne und voller Schrecken beobachten. Tausende von Verzweiflung und Angst getriebene Menschen strömten zum Flughafen in Kabul, klammerten sich an startende Flugzeuge, fielen vom Himmel. Babys wurden über Zäune an Soldaten überreicht, um wenigstens dieses Leben zu retten. Hunderte nächtigten im Schlamm und im Dreck, um es am nächsten Tag wieder zu versuchen, doch am nächsten Tag explodierte die Bombe.
Die Folge all dieser Ereignisse war jedoch nicht, dass Deutschland und andere Mächte sich noch stärker bemüht hätten, möglichst viele von den zurückgelassenen Menschen zu retten, nein, stattdessen wurden Deals mit den Nachbarstaaten geschlossen, um Fluchtbewegungen aus dem Land möglichst noch in der Region zu unterbinden. Das Prinzip der Externalisierung. Die EU-Oberen nennen es auch gern „migration control“, Migrationskontrolle.
Noch immer melden sich Menschen aus Afghanistan, die eine Evakuierung brauchen, darunter Frauenrechtlerinnen, Menschenrechtsaktivistinnen, Familien. Zum Glück gibt es Nichtregierungs-Organisationen wie MISSION LIFELINE und private Akteurinnen, die sich den Arsch aufreißen, diese Menschen zu retten. Hin und wieder gelingt es auch. Und dann rollen auf allen Seiten Tränen. Bei den politischen Verantwortlichen und Technokraten rollen jedoch höchstens Krokodilstränen. Oder Tränen aus Stein. Worte der Anteilnahme und des Bedauerns sind nichts wert ohne konkrete Taten und konkrete Veränderungen in der europäischen Asylpolitik.
Wir werden sehen, welche Koalition Deutschland in den nächsten vier Jahren regieren wird, aber schon jetzt ist klar, dass sie sich auch daran messen lassen muss, was sie dafür tut, dieses in Recht gegossene Unrecht in der europäischen Asylpolitik endlich zu bekämpfen. Es ist auch an uns, der demokratischen Zivilgesellschaft, an jedem Einzelnen mit einem fühlenden Herzen, hier weiterhin Druck zu machen und zu sagen: Wir werden es niemals akzeptieren, dass Menschen ihre unveräußerlichen Menschenrechte aberkannt werden. Wir nehmen es nicht hin, dass Menschen auf ihrem Fluchtweg ertrinken, obwohl sie gerettet werden könnten. Wir meinen es ernst mit Demokratie und Menschenrechten, und für uns ist die sogenannte „Wertegemeinschaft“ nicht nur eine leere Hülle. Für uns sind all diese Menschen nämlich keine verdammten „Zahlen“, sondern genau das: Menschliche Wesen.
Foto: Robert Fietzke