21. September 2022
Von Matthias Meisner
Zuweilen ist es ein erbitterter Kampf. Wie die Kinder erziehen nach Trennungen? Auf der einen Seite erfreut sich das paritätische Wechselmodell, auch Doppelresidenzmodell genannt, wachsender Beliebtheit – eine attraktive Lösung vor allem in jenen Fällen, in denen sie einvernehmlich zwischen den Eltern und möglichst auch mit Einverständnis der Kinder vereinbart werden kann. Aber was soll gelten für hochstrittige Eltern? Und warum gibt es Fälle, in denen das Wechselmodell sogar nach häuslicher Gewalt vor den Familiengerichten von einem Elternteil durchgesetzt werden kann?
CN #Partnerschaftsgewalt
— christina clemm (@barbaraclemm) September 19, 2022
Wenn Frauen ihre gewalttätigen Männer verlassen, kommt es immer wieder dazu, dass diese plötzlich ihre unbändige Kinderliebe entdecken. Nachdem sie sich vorher nicht an Care-Arbeit beteiligt haben und den Kindern zugemutet haben, die Gewalt gegen 1/
Betroffene schildern immer wieder groteske Situationen. Eine Mutter aus Sachsen etwa beschreibt, dass zunehmend „der Spieß einfach umgedreht wird, um die eigene Reputation zu schützen“. Das verlaufe so: „Man bezichtigt die Frau gewaltsamer Handlung oder Bedrohung.“ Angeblich „falsche Wortwahl“ der Frau werde als Gewalt definiert, „gegen die man sich ja wehren musste“. Die Frau sagt weiter: „Da Frauen aufgrund verschiedener Umstände existenziell abhängig bleiben, geraten sie auch gerne mal in eine Art Stockholm-Syndrom, wider alle Vernunft.“
Dass die Institutionen – Familiengerichte, Jugendämter – mit der komplexen Sachlage oft überfordert sind, hat die aus Leipzig stammende Autorin Marie von Kuck im März in einem Feature für den Deutschlandfunk beschrieben, „Ihre Angst spielt hier keine Rolle“ . Väterrechtler-Verbände wie der Väteraufbruch für Kinder (VAfK) ordneten das Feature einer „seit Monaten geführten Desinformationskampagne“ zu.
Doch viele Betroffene bestätigen, dass sowohl Jugendämter als auch Familiengerichte immer wieder den Schutz von Kindern aushebeln, wie von Kuck recherchiert hatte. Eine Mutter aus Berlin sagt: „Ich selbst habe leider auch keine guten Erfahrungen mit der Institution Jugendamt gemacht. Anstatt des Kindeswohls wurde auch bei uns die Durchsetzung des Umgangs priorisiert – trotz Gewalt und mit traumatisierenden Folgen.“ Sie fragt: „Mich würde zunehmend interessieren, nach welchen Richtlinien Jugendämter arbeiten und wer diese machtvollen Institutionen kontrolliert?“ Und: „Inwiefern findet häusliche Gewalt bei Umgangsfragen Berücksichtigung? Inwiefern wird die Istanbul-Konvention in der Arbeit des Jugendamtes berücksichtigt?“ Die Istanbul-Konvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt.
Durchgesetzt wird das Wechselmodell vor Gericht nicht selten mit der Behauptung, Mütter würden eine Eltern-Kind-Entfremdung betreiben, der es vorzubeugen gelte. Dennoch betonen selbst Fachleute Einschränkungen, die grundsätzlich das Wechselmodell als Leitbild propagieren. Nina Weimann-Sandig, Soziologieprofessorin an der Evangelischen Hochschule Dresden, schreibt in ihrem neuen Buch „Weil Kinder beide Eltern brauchen“: „Ich beziehe mittlerweile sehr klar Position: Sind Eltern hochstrittig oder nicht in der Lage, eine strukturierte Kommunikation über das Alltagserleben ihrer Kinder zu führen, bietet sich das Wechselmodell aus meiner Sicht nicht an. Vielmehr führt es zu einer kontinuierlichen psychischen Belastung der Eltern wie auch der Kinder und macht es allen Beteiligten schwer, nach der Trennung in einen glücklichen neuen Lebensabschnitt überzugehen.“ Nach Angaben von Weimann-Sandig präferieren vor allem Väter das Wechselmodell. Ein Viertel der Mütter stimme eher widerwillig zu und ein weiteres Viertel müsse aufgrund einer gerichtlichen Anordnung das Wechselmodell akzeptieren. Die Autorin kritisiert „,Hauruck-Verfahren‘, die von manchen Familiengerichten teilweise angeordnet werden“. Sie schreibt: „Über die Kinder wird verfügt, als wären sie Gegenstände.“
Heftig diskutiert wird über problematische Sorgerechtsentscheidungen auch in Österreich. In einem Blogbeitrag der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit (FIPU) zur dort aktuell verhandelten Kindschaftsrechtsnovelle wird die erfolgreiche Lobbyarbeit von antifeministischen Väterrechtlern beschrieben: „Im Fall von strittigen Ex-Paaren führt auch die gemeinsame Obsorge zumeist nicht dazu, dass Väter tatsächlich mehr Verantwortung übernehmen. Im Gegenteil wird die entsprechende Gesetzgebung auch von Vätern herangezogen, um Druck und Kontrolle über die Ex-Partnerin auszuüben.“
Das #Kindeswohl muss immer Vorrang haben.
Im Konfliktfall ist das #Wechselmodell für Kinder oft belastend. Pauschale Modelle werden den Kindern nicht gerecht. https://t.co/9zD1H2Sso6— Bahar Haghanipour (@BaharHaghani) September 7, 2022
Diese zuweilen toxisch wirkende Lobbyarbeit der Väterrechtler gibt es ähnlich auch in Deutschland. Die Berliner Grünen-Politikerin Bahar Haghanipour, Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses, erlebte das, als sie twitterte: „Das #Kindeswohl muss immer Vorrang haben. Im Konfliktfall ist das #Wechselmodell oft belastend. Pauschale Modelle werden den Kindern nicht gerecht.“ Haghanipour erntete in dem sozialen Netzwerk einen ganzen Rattenschwanz gehässiger Kommentare aus der Väterrechtler-Szene.
Unterstützt werden diese Kreise im Bundestag vor allem von der FDP. „Kinder brauchen Bindungskontinuität“, lautet deren Argument. Wenn Akteur:innen aus der FDP oder auch des Väteraufbruchs über das Thema sprechen, werden die Probleme mit einem zwangsweise verordneten Wechselmodell oft unterschlagen.
In den Beratungsrichtlinien des VAfK wird Verständnis bekundet für Väter, die „durch eine Scheidung alles verlieren: ihre Familie, die Partnerin die Kinder“. Dies sei eine „besondere psychische Belastungssituation“, heißt es. Der Verband gibt zu: „Äußerlich reagieren Männer auf diese Gefühle vereinzelt aktionistisch und aggressiv, teilweise mit Wut und Gewalt oder auch depressiv, bin hin (…) zum Suizid.“ Es gibt Hinweise, dass der Väteraufbruch auch solche Väter in seiner Beratungsarbeit dabei unterstützt, Umgangsrechte durchzusetzen, selbst wenn dadurch das Kindeswohl gefährdet wird.
Der Lübecker VAfK-Vorstand Burkhard Röttger ließ sich vor einigen Wochen in einer NDR-Reportage zitieren mit der Forderung, die paritätische Doppelresidenz als vorrangiges Betreuungsmodell der Kinder nach Trennung und Scheidung in deutschen Gesetzen, Rechtssprechung und Praxis zu etablieren. Die Reporterin hatte sich zu einem Treffen vermeintlich entrechteter Väter in einem freigeräumten Carport am Lübecker Stadtrand begeben. Sie berichtete über Vorwürfe wie Eltern-Kind-Entfremdung, Manipulationen durch Mütter, Rosenkrieg, Umgangsausschlüsse, Verleumdung, Missbrauchs- oder Gewaltvorwürfe gegen den anderen Elternteil, davon, dass Väter ihre Kinder nicht oder nur noch wenig sehen könnten: „Frustration liegt in der Luft, bei einigen spürt man tiefe Verzweiflung.“
Man möchte mit Röttger gern darüber sprechen, welche Haken die Sache mit dem Wechselmodell haben kann, wie sein Verband damit umgeht, wenn schlagende Väter bei ihm vorstellig werden. Empfiehlt der VAfK das Doppelresidenzmodell auch für total zerstrittene Eltern und auch dann, wenn es ein Elternteil erst vor dem Familiengericht durchsetzen kann? Müsste es nach Partnerschaftsgewalt nicht mehr niedrigschwellige Angebote für die Täterarbeit geben? Wenn Jugendämter grundsätzlich davon ausgehen, dass ein regelmäßiger Kontakt von Kindern mit beiden Elternteilen förderlich für die Entwicklung eines Kindes ist – welche Grenzen sollte es dabei geben? Was ist bei nicht aufgearbeiteter Gewalt eines Elternteils gegenüber dem eigenen Kind, was, wenn die Eltern sich bereits vor der Geburt getrennt haben oder das Kind bei einer Vergewaltigung gezeugt worden ist? Und wie geht der Verband damit um, wenn ein um seine Rechte kämpfender Elternteil ein Psychopath ist, ein Mensch, der kein Gewissen hat und dem es gar nicht um das Kind, sondern nur um Macht geht?
Wenn eine Gruppe sagt: “Wir haben Angst aufgrund schlechter Erfahrungen.” Und die andere Gruppe sagt: “Stellt euch nicht so an, das bildet ihr euch nur ein!”, dann ist für mich klar, an wessen Seite ich stehe. Politisch wie praktisch.
— Christine Finke (@Mama_arbeitet) September 16, 2022
Fragen an die Väterrechtler und ihre Verbände wie den VAfK seien „sehr berechtigt“, sagt die Konstanzer Autorin Christine Finke, die seit Jahren zum Thema bloggt. „Viel zu oft werden die Interessen von gewaltbetroffenen Frauen und ihren Kindern, die immer noch traumatisiert sind, unter den Tisch gekehrt.“
Der Väteraufbruch-Funktionär Röttger, der zunächst die Notwendigkeit von Dialog betont und Auskünfte in Aussicht gestellt hat, gibt den Fragenkatalog weiter an den VAfK-Bundesverband. Dessen Vorstandsmitglied Markus Witt schreibt, grundsätzlich schätze sein Verein „eine interessierte, differenzierte, auch kritische und unabhängige Presse“ und gebe auch gerne Einblick in die Vereinsarbeit. „Da Sie aber seit langem sehr deutlich zu erkennen geben, dass Sie zu diesem Themenbereich nicht journalistisch arbeiten, sondern nur versuchen, ihre abseits jeglicher Fakten vorgefestigte Meinung oder Ideologie zu beweisen, bitte ich um Verständnis, dass wir ihre Fragen nicht beantworten werden.“ Auf Twitter geht Witt den Autor persönlich an: „Wer leugnet oder verharmlost häusliche Gewalt? Oder auch die Frage, wer bedient mit falschen Gewaltvorwürfen Stereotype zu Lasten von Kindern? Wie sieht es denn bei Ihnen zu Hause mit dem Thema aus, Herr Meisner?“
Anders ausgedrückt: Der VAfK setzt sich – mindestens in Einzelfällen – nicht mit häuslicher Gewalt seiner Klientel auseinander. Sondern verbreitet die Legende, dass Vorwürfe erfunden würden, um Kinder von ihren Vätern zu entfremden. Es sind Fälle der Verharmlosung oder Relativierung von häuslicher Gewalt, von denen jeder einzelne einer zu viel ist. Doch faktisch hat sogar ein großer Teil der Kindschaftssachen vor Familiengerichten einen Gewalthintergrund.