16. April 2022
Kolumne von Robert Fietzke
Am 9. August 1999 benennt der russische Präsident Boris Jelzin seinen Favoriten für das Amt des Ministerpräsidenten: Wladimir Wladimirowitsch Putin, der bis dato den russischen Geheimdienst FSB leitet. Wenige Tage später bestätigt die Staatsduma die Wahl Putins mit einer knappen Mehrheit von sieben Stimmen. Putin ist zu diesem Zeitpunkt 46 Jahre alt und verspricht die Fortführung der Liberalisierung der Volkswirtschaft, inszeniert sich als Kämpfer gegen Korruption und markiert eine harte Linie in der Außenpolitik. Keinen Monat später beginnt er seinen ersten Krieg und lässt tschetschenische Ortschaften bombardieren, vorgeblich, um „Terroristen“ zu bekämpfen.
Wenige Tage später wird Russland von einer verheerenden Anschlagserie erschüttert. Am 9. und 13. September detonieren mehrere Sprengsätze mit dem Sprengstoff Hexogen in zwei Hochhäusern in Moskau. Am 16. September detoniert eine Autobombe vor einem Wohnhaus in Wolgodonsk. Bei diesen Anschlägen sterben insgesamt 229 Menschen. Hunderte weitere werden dabei verletzt. Der neue russische Ministerpräsident macht sofort tschetschenische Terroristen dafür verantwortlich und erklärt ihren „illegalen Kampfeinheiten“ den Krieg. Beweise für eine tschetschenische Verantwortung gibt es allerdings nicht. Dafür vereiteln russische Polizisten am 22. September 1999 einen weiteren Anschlag in Rjasan, nachdem sie von Anwohnerinnen auf verdächtige Aktivitäten mehrerer Männer hingewiesen wurden, die Säcke in den Keller eines Wohnhauses schleppten. Die Polizei entdeckt bei ihrem Zugriff nicht nur Säcke, Zünder und Zeitschaltuhr, sondern auch Hexogen. Sie nimmt die Männer fest. Wenig später stellt sich heraus: Sie sind Agenten bei jenem Geheimdienst, dessen Chef noch vor eineinhalb Wochen Wladimir Putin hieß. Für viele Journalistinnen, Oppositionelle und Kritiker*innen des Regierungskurses steht seitdem fest, dass Putin diese Anschläge selbst geplant und inszeniert habe, um den Eintritt in den zweiten Tschetschenien-Krieg zu rechtfertigen, der seine Popularität steigern und ihm das Präsidentenamt einbringen soll, was dann auch beides eintreten soll. Das Interesse an diesem „Inside Job“ muss man derweil im Westen und in der deutschen Friedensbewegung auch noch über 20 Jahre später mit der Lupe suchen.
Seit dem 23. September fliegt die russische Luftwaffe täglich Luftangriffe auf tschetschenische Städte. Ganze Städte wie Grosny werden mit Flächenbombardements aus der Luft und aus Artilleriegeschützen dem Erdboden gleichgemacht. Wer nicht fliehen kann, versucht in Kellern Unterschlupf zu finden. Schon bald mangelt es an allem, an fließendem Wasser, an Essen, an Strom, an Heizmitteln. Jeden Tag sterben dutzende Menschen in der Hölle von Grosny, Gudermes und Schali. Es häufen sich außerdem Berichte über Plünderungen, gezielte Tötungen von fliehenden Menschen und Bombardierungen von Fluchtrouten. In der Region Naurski Rayon sollen russische Soldaten 80 tschetschenische Männer exekutiert haben. Am Abend des 21. Oktober schlagen dann mehrere Boden-Boden-Raketen auf dem Marktplatz in Grosny ein, der zu diesem Zeitpunkt die einzige Möglichkeit darstellt, an etwas Essbares zu gelangen, und vor allem von einkaufenden Frauen bevölkert wird. Bei diesem Massaker werden 188 Menschen getötet und über 400 weitere verletzt. Wladimir Putin behauptet einen Tag später, es habe an diesem Tag keine Bombardierung des Marktes gegeben. Sein Regierungssprecher ändert dann die Version und verkündet, tschetschenische Terroristen hätten selbst eine Autobombe gezündet. Insgesamt sterben in diesem Zweiten Tschetschenien-Krieg, den Putin ja mit dem Versprechen begründete, „2000 Terroristen“ zu liquidieren, zwischen 50.000 und 80.000 Zivilist*innen. Das Gros der Militäroffensive endet schließlich 2000 mit der Inthronisierung des prorussischen Muftis Achmad Kadyrow, dem Vater des heutigen Diktators Ramzan „Bluthund“ Kadyrow.
In Deutschland sitzt zur gleichen Zeit ein Mann im Bundeskanzleramt, dessen wohl bekanntestes Zitat vom Kreml-Chef handelt: „Putin ist ein lupenreiner Demokrat“. Der Sozialdemokrat Gerhard Schröder macht von Anfang an keinen Hehl aus seiner Bewunderung für den russischen Regierungschef. Später wird er die blutige Tschetschenien-Politik Putins loben, fingierte Wahlen reinwaschen und zu Berichten über Kriegsverbrechen vor allem eines tun: schweigen. Dieses Schweigen und eine intensivierte Männer-Freundschaft zum russischen Kriegsfürsten bringt ihm nach seiner Karriere als Arbeitslosen-Peiniger und Bundeskanzler einige lukrative Lobbyisten-Tätigkeiten beim Mineralölonzern Rosneft, der Nordstream AG und dem Gas-Staatsunternehmen Gazprom ein.
2008 kommt es zum Kaukasus-Krieg, bei dem Russland die georgischen Gebiete Abchasien und Südossetien besetzt, vorgeblich um dort lebende „russische Staatsbürger“ vor georgischen Angriffen zu beschützen. Er dauert nur wenige Tage, wird dafür aber mit umso größerer Brutalität begangen. Auch in diesem Krieg gibt es zahlreiche Berichte über Kriegsverbrechen. Russische Panzer kommen dann 50 Kilometer vor der Hauptstadt Tiflis zum stehen. Bei einem Treffen mit dem französischen Präsidenten Sarkozy, der später den Friedensschluss einfädelt, sagt Putin den Satz: „Ich werde den georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili an den Eiern aufhängen.“ Bis heute hat Georgien nahezu keinen Einfluss mehr auf die durch Russland nach Putin-Playbook anerkannten „unabhängigen Regionen“, die zudem ökonomisch komplett abhängig von Russland sind. Russisches Militär ist bis zum heutigen Tag dort stationiert und die südossetischen Streitkräfte inzwischen regulärer Teil der russischen Armee.
Was ist die deutsche Reaktion auf den Kaukasus-Krieg? Die nicht mehr ganz so neue Bundeskanzlerin Angela Merkel verkürzt ein üblicherweise zweitägiges Treffen in St. Petersburg auf zwei Stunden und nimmt weniger Minister*innen mit als geplant. Wenn das mal keine deutliche Verurteilung eines Krieges ist, dann weiß ich auch nicht. Auf der Tagesordnung stehen vor allem die Themen wirtschaftliche Zusammenarbeit und natürlich die Ostsee-Pipeline. Zum Kaukasuskrieg äußert sich Merkel kurz angebunden: „Wir halten die Reaktion Russlands in diesem Konflikt für nicht angemessen.“ Die Worte „völkerrechtswidrige Besatzung“ nimmt sie nicht in den Mund. Dafür wird nebenbei noch ein großer Deal zwischen E.ON und Gazprom eingefädelt. Medwedew und Merkel betonen am Ende dieses „Petersburger Dialogs“, sich mehr für internationale Strukturen zur Lösung globaler Krisen – Es ist gerade Finanzkrise – einzusetzen. Ob sie damit auch die Klimakrise gemeint haben, ist nicht überliefert.
Februar 2014. Russische Einheiten besetzen die ukrainische Halbinsel Krim und erzählen das Putin’sche Märchen vom „Schutz für russische Landsleute“. Im März wird die Krim dann völkerrechtswidrig annektiert. Gleichzeitig rufen prorussische Separatisten in Donezk und Luhansk ihre „Volksrepubliken“ aus. Ein regelrechter Schattenkrieg beginnt, bei dem Russland genauso wie 1992 in Transnistrien, in Tschetschenien und Südossetien verdeckte oder offene militärische Unterstützung für die prorussische „Unabhängigkeitsbewegung“ liefert. Die Reaktionen aus Deutschland und anderen westlichen Staaten sind dieses Mal deutlicher und entschlossener, aber nur auf der verbalen Ebene. An den gemeinsamen Großprojekten, den engen wirtschaftlichen Verflechtungen und der Energie-Abhängigkeit ändert sich acht Jahre lang wenig, an der Ignoranz gegenüber den immer lauter werdenden Warnungen und Mahnungen aus der Ukraine selbst noch weniger.
Als Russland dann ab 2015 offen den Schlächter Assad in Syrien unterstützt und ihm folglich die Beibehaltung seiner Macht sichert, zeigt es erneut, mit welcher Rücksichtslosigkeit es geostrategische und politische Ziele umzusetzen bereit ist. Wieder fliegen russische Flugzeuge Flächenbombardements auf Städte, zwingen Zehntausende zur Flucht, wieder sterben Tausende Zivilist*innen im Bombenhagel. Der Name Aleppo steht wie Grosny und nun auch Mariupol für eine Art der Kriegsführung, die unter normalen Umständen eine weltweite Ächtung nach sich ziehen müsste. Aber was sind schon normale Umstände in dieser Welt? Jedenfalls schaut der Westen, schaut Deutschland weitestgehend schulterzuckend dabei zu, wie Assad mit Hilfe von Russland, Iran und der Hisbollah weite Teile seines früheren Territoriums zurückerobert, wobei der Krieg gegen den IS schon längst in den Hintergrund getreten ist. Wer außerdem zuschaut und nicht auf die Straße geht, als Aleppo zerstört wird, ist die deutsche Friedensbewegung.
Seit 2018 ist Russland außerdem militärisch in Libyen, Mosambik, Bergkarabach, der zentralafrikanischen Republik, Kasachstan und Mali involviert, oft über Söldner-Verbände wie der faschistischen „Gruppe Wagner“. Oft sind sie an schweren Menschenrechtsverletzungen oder gar Kriegsverbrechen beteiligt.
Über all das, über das militärische Wirken Russlands in den letzten 30 Jahren, insbesondere seit Putins Machtantritt im Jahr 1999, über Gräuel, Grenzverletzungen, Lügen, Massaker und Kriegsverbrechen, über all das gibt es genügend Berichte. Es gibt genügend Wissen über den extrem brutalen Charakter der russischen Kriegsvorbereitung und -führung. Es gibt stichhaltige Analysen über die imperialistischen „Russki Mir“-Bestrebungen, schließlich sagen Putin und seine Schergen diese Sachen seit Jahren völlig offen in Mikrofone und Kameras. Es gibt auch genügend Informationen über den Zustand der „gelenkten Demokratie“ (Putin) dieses größten Landes der Erde, über Pseudo-Wahlen, ausgeschaltete Oppositionelle, Angriffe, Einschüchterungen und Ermordungen kritischer Journalist*innen, Unterdrückung gesellschaftlicher Minderheiten bis hin zu einer erstarkenden, echten faschistischen Bewegung rund um den Vordenker Alexander Dugin.
Obwohl es all das gibt, all die Berichte, das Wissen, die frei zugänglichen Informationen, brauchte es erst den 24. Februar 2022, damit auch die Letzten aufwachen und kapieren, dass Putins Russland keine Friedensmacht ist? Die Wahrheit ist: Weder die verschiedenen deutschen Regierungen, die in all den Jahren rein gar nichts an ihrer Russland-Politik änderten, noch die deutsche Friedensbewegung und schon gar nicht die antiimperialistische Linke haben sich in den vergangenen Jahrzehnten für all das interessiert. Sie haben geschwiegen und weggeschaut, im wahrsten Sinne des Worte, denn das Auge lag schließlich permanent auf anderen Imperien. Bei Vielen liegt es gegen jede Realität weiterhin dort, und nur dort. Die Frage ist, warum an dieser Stelle der Ausspruch „Wer schweigt, stimmt zu“ eigentlich nicht gelten soll.
Foto: Robert Fietzke