01. September 2020
Kolumne von Michael Bittner
Hartnäckig hält sich über die Linkspolitikerin Sahra Wagenknecht das Gerücht, sie sei eine Freundin geschlossener Grenzen. Glücklicherweise hat sie dieser Lüge schon vor Jahren widersprochen: „Klar finde ich es auch schön, wenn man Grenzen nicht mehr spürt. Wenn man wie ich im Saarland lebt, ist man in zehn Minuten mit dem Fahrrad in Frankreich und kann sich ein Baguette kaufen, ohne Geld wechseln zu müssen.“ Am Sonntag setzt sich Sahra früh aufs Rad, fährt in der erquickenden Morgenluft ins Nachbarland, kauft mit der fragwürdigen Einheitswährung Euro frisches Backwerk, radelt zurück, setzt sich dann mit ihrem ausgeschlafenen Oskar im Eigenheim zum gemütlichen Frühstück und plaudert über aktuelle Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Es ist ein herrliches Leben!
Nur soll man es nach Wagenknechts Meinung mit den offenen Grenzen auch nicht übertreiben. Halboffene reichen. Fremde aus dem Süden, die im Norden nach einem besseren Leben suchen, sind ihr offenbar wenig willkommen. Zumindest geißelte sie Angela Merkel für deren Entscheidung, die Grenzen für Bürgerkriegsflüchtlinge nicht sogleich zu schließen. Überhaupt sei Zuwanderung eine bedenkliche Sache, denn die Fremden konkurrieren ja mit den Einheimischen um Arbeitsplätze, Wohnungen und Sozialleistungen. Und womöglich nehmen sie den Deutschen auch noch die „eigene Kultur“ weg. „Protektionismus ist immer gerechtfertigt, wenn sich die Armen gegen die Reichen schützen. Wenn sich die Reichen gegen die Armen schützen, wird es natürlich schwieriger.“ Es wird schwieriger, aber Sahra Wagenknecht gelingt‘s trotzdem immer wieder.
Grenzen dienen dazu, Ungleichheit aufrechtzuerhalten. Umso verwunderlicher ist es, dass es inzwischen manche Linke gibt, die das Lob der Grenze singen. Gerne eifern sie dabei gegen „Globalisten“. Wer für durchlässige Grenzen eintrete, der sei ein Neoliberaler. Merkwürdig nur, dass die Neoliberalen, die es tatsächlich gibt, offene Grenzen nur für Waren, Kapital und Reiche befürworten, keineswegs aber für gewöhnliche Leute oder gar Arme. Wahrscheinlich ahnen sie, dass bewegliche Menschen oft schwerer auszubeuten sind. Wer allen Ernstes glaubt, Manager, die über Grenzen hinweg Geschäfte machen, und Aktivisten, die ohne Rücksicht auf Grenzen für Solidarität kämpfen, gehörten beide zur selben Klasse der „Globalisten“, der hat nicht mehr alle Latten am Zaun.
Mit ihrem Appell an die Heimatressentiments der „eigenen Leute“ erhoffen sich die Linksnationalen, beim „kleinen Mann“ politisch Land zu gewinnen. Sie versprechen ihm, die Fremden fern zu halten, fügen aber treuherzig hinzu, man wolle stattdessen „vor Ort helfen“, was doch ohnehin viel besser sei. Ganz gewiss wär’s besser, wenn auf der ganzen Welt nicht ein einziger Mensch unfreiwillig seine Heimat verlassen müsste. Nur kann man sicher sein: Sind die Grenzen der Festung Europa erst völlig menschendicht geschlossen, werden dem reichen Norden die Nöte im Süden nur noch herzlich gleichgültig sein. So unbeschwert schmeckt dann auch der Sonntagskaffee wieder besser.
Foto: Amac Garbe