Kuchenreste, die nach Freiheit schmecken

Kuchenreste, die nach Freiheit schmecken

21. November 2021

Zwei Betten, zwei Koffer. Zwölf Quadratmeter. Ein Hotelbad. Das ist jetzt das Leben von Familie Joya. „Wir haben zwar nicht viel Platz“, sagt Sediq Joya, 35. „Aber wir fühlen hier absolute Freiheit.“

Sediq legt seinen Arm um seine fünfjährige Tochter, Aria. Sein sechsjähriger Sohn Arian kritzelt auf eine Schreibtafel. Auf einer Kommode stehen Kuchenreste. Arian hat den Tag davor einen Milchzahn verloren. „Wir feiern das immer mit Kuchen“, erklärt Sediq und lächelt. Die Familie hat sich dieses Ritual ausgedacht. Sie mussten vieles in Afghanistan zurücklassen. Ihre Traditionen haben sie aber mitgenommen.

Vor sechs Tagen ist Familie Joya mit dem Flugzeug in Islamabad, Pakistan, gelandet.

„Wir können nach langer Zeit endlich machen, was wir wollen. Zusammen vor die Tür gehen, draußen spazieren.“ In den letzten drei Monaten war das nicht möglich. Seit die Taliban in Afghanistan an der Macht sind, hat sich die Familie versteckt. „Wir hatten ein Haus in Masar-i-Scharif“, sagt Sediq. „Klein, nur eine Etage. Das hat uns gereicht. Wir hatten ein gutes Leben. Mein Bruder lebte nebenan. Als die Taliban im August kamen, sind wir sofort nach Kabul geflüchtet.“ Seine Frau Sana, 25, war selbstständig, hatte einen eigenen Beauty-Salon. Er lief gut. Sediq atmet kurz durch. „Wir haben alles zurückgelassen. Wir hatten keine Wahl.“

Die Taliban kennen Sediq. Der Grafik-Designer hat in einem Medienzentrum gearbeitet, das von der NATO eingerichtet wurde – hat zum Beispiel Flugblätter mit Warnungen vor den Taliban bedruckt, die von Helikoptern über Afghanistan abgeworfen wurden. „Wir haben eng mit Bundeswehrsoldaten zusammengearbeitet“, erzählt er. Er nennt es einen „Kalten Krieg durch Medienprodukte“.

Seit der Flucht nach Kabul hat Sediq das Versteck bei ihren Verwandten nicht verlassen.

„Erst dachten wir, dass wir bei der Evakuierungs-Mission der Bundeswehr nach Deutschland fliehen können“, sagt er. Konnten sie nicht. „Und die Situation in Kabul wurde immer schlimmer.“ Sana durfte das Haus nur völlig verschleiert verlassen, erzählt sie. Ihre Kinder haben traditionelle Kleider getragen. „Arian hat sein Kleid einmal weggeworfen“, sagt sie und lacht. „Er sagte: Ich will das nicht mehr tragen, ich hasse dieses Kleid.“ Die Kinder hätten nicht verstanden, was in Afghanistan passiert. „Aber sie haben unsere Angst gespürt.“

Mit den Spenden von Mission Lifeline konnte die Familie nach drei Monaten Flucht endlich alle nötigen Dokumente bekommen und das Land verlassen. „Man hat uns versprochen, dass man uns bis zu unserer Ankunft in Deutschland unterstützen wird“, sagt Sediq. Die Familie will in Köln unterkommen, sobald die deutsche Botschaft in Islamabad grünes Licht gibt. Sana lernt bereits Deutsch. Sediq checkt schon jetzt immer wieder das Wetter in Deutschland. „Wir können es kaum erwarten“, sagt er. „Wir hoffen, dass wir dort wieder ein normales Leben führen können. Dass unsere Kinder zur Schule gehen können, meine Frau und ich arbeiten dürfen, dass wir schnell die Sprache lernen. Und uns in der Gesellschaft integrieren.“
Ihre Heimat haben sie hinter sich gelassen. Jetzt sind sie bereit für ein neues Leben. Sie starten es mit zwei Koffern – und vielen Ritualen.

Fotos: Achim Schmidt
Text: Kathrin Braun

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