24. Januar 2023
Kolumne von Özge Iran
Ist die Gefängnisstrafe, die einem Kriegsdienstverweigerer droht, eine politische Verfolgungshandlung? Ist sie auf die oppositionelle Haltung der Betroffenen zurückzuführen? Wer diese Fragen bejaht, befindet sich seinerseits in Opposition zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Die Behörde sah hierin im Fall eines 31-jährigen Syrers einen herkömmlichen Akt der Strafverfolgung. Ihm sollte daher kein Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention zustehen. Stattdessen erhielt er sogenannten subsidiären Schutz, der auf vorübergehende Notsituationen ausgelegt und daher auf ein Jahr, bei Verlängerung auf bis zu drei Jahre befristet ist.
Als der Syrer, der seit 2015 in Berlin lebt, dagegen klagte, bekam er in zwei Instanzen Recht. Das syrische Regime schreibe ihm eine oppositionelle Gesinnung zu, wenn es seine Weigerung, am Bürgerkrieg teilzunehmen, mit Haftstrafe bedrohe, argumentierten die obersten Berliner Verwaltungsrichter. Weil das BAMF seine Mission, Ausländern den Aufenthalt in Deutschland so scheußlich wie möglich zu gestalten, äußerst ernst nimmt, muss das Bundesverwaltungsgericht noch einmal ran. Am Donnerstag soll der Fall zusammen mit einer Reihe weiterer solcher Fälle entschieden werden.
Nicht nur für syrische Kriegsdienstverweigerer sind die Zeiten denkbar absurd. So einig sich alle in der Verurteilung des russischen Überfalls auf die Ukraine sind, so alternativlos behandelt die nahe Europäische Union seinen Charakter als tödliche Pflichtveranstaltung für Millionen junger Männer.
Für ukrainische Staatsangehörige ist die Visapflicht seit Anfang März 2022 aufgehoben, das gilt auch für Wehrpflichtige. Die dürfen allerdings das Land nicht verlassen und haben daher wenig von ihrem Status als Kriegsflüchtlinge. Wer direkt von der Front desertiert, dem drohen nach jüngst verschärftem Gesetz bis zu zwölf Jahre Haft. Die Neuregelung löste im Land heftige Diskussionen aus und erfuhr interessanterweise auch Widerstand aus den Reihen der Armee. So zitiert die Neue Zürcher Zeitung [https://www.nzz.ch/international/ukraine-krieg-haertere-strafen-fuer-deserteure-und-mehr-disziplin-ld.1719006] einen „hochdekorierten“ Veteranen mit den Worten, im Gegensatz zu Russland treibe die Ukraine ihre Soldaten nicht „mit dem blutigen Vorschlaghammer“ in den Kampf.
Apropos: Russen hätten im Asylverfahren eigentlich gute Karten. Dafür sorgt eine europarechtliche Grundsatzentscheidung, nach der die befürchtete Teilnahme an Kriegsverbrechen ein Asylgrund ist. Damals ging es ausgerechnet um einen US-amerikanischen Soldaten im Irakkrieg. Mit Blick etwa auf Cherson oder Butscha dürfte die Geltendmachung dieses Asylgrundes vor deutschen Gerichten ein Selbstläufer sein, außerdem wären da noch die fünfzehn Jahre Haft zu nennen, die in Russland auf Fahnenflucht stehen.
Nun müssen Russen, die von ihrem Menschenrecht (!) auf Asyl Gebrauch machen wollen, einen entsprechenden Antrag stellen. Das geht bekanntlich nur auf europäischem Boden, mit anderen Worten: die Leute müssen irgendwie rein. Und das wollen sie offenbar so zahlreich, dass eine entsprechende Anlaufstelle von bis zu hundert Anfragen pro Tag berichtet und das russische Militär inzwischen eigene Suchtrupps für Deserteure eingerichtet haben soll. Im September vergangenen Jahres entschied die Europäische Union, die Einreise russischer Staatsangehöriger mit diversen Restriktionen zu erschweren, etwa die Antragsgebühr zu erhöhen, mehr Dokumente zu verlangen und die Bearbeitungszeit zu verlängern. Diesen effektiven Beitrag zur russischen Wehrkraft nannte der tschechische Innenminister Vít Rakušan einen „Beweis für unser beharrliches Engagement für die Ukraine.“
Dass junge Männer das Leben aufzugeben haben, wenn die Nation ruft, ist ein Diktat, an dem die bürgerliche Gesellschaft allem Individualismus zum Trotz nicht rütteln kann. Der territoriale Herrschaftsanspruch, notwendige Bedingung des Nationalstaates, gebietet es. Bekanntlich kann auch Deutschland im sogenannten Spannungsfall alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren dazu verpflichten, diesen Anspruch zu verteidigen. Wie bereitwillig wir gemäß dieser Ideologie das Leben eines Menschen als Verfügungsgegenstand hoheitlicher Gewalt behandeln, zeigt sich nicht zuletzt in der Rechtsprechung zu Kriegsdienstverweigerung – und damit auch diese Woche vor dem Bundesverwaltungsgericht.
Foto: Timo Schlüter