Kapitulation am Hindukusch

Kapitulation am Hindukusch

04. Mai 2021

Kolumne von Michael Bittner

Merkwürdig still und gelassen wurde die Nachricht in der westlichen Öffentlichkeit aufgenommen: Bis zum 11. September sollen alle US-amerikanischen Truppen aus Afghanistan abgezogen werden. Die verbündeten NATO-Soldaten verschwinden ebenfalls, sie wären ohne die Amerikaner ohnehin wehrlos. Der neue Präsident Biden hat den Abzug so beschlossen. Dass er damit nur eine Entscheidung seines Vorgängers Donald Trump bestätigte, sorgte bei all jenen, für die Trump eigentlich der Erzteufel ist, nur für leichtes Unwohlsein. Im Wunsch, überseeische Kriegsabenteuer zu beenden, sind sich die sonst so zerstrittenen US-Amerikaner inzwischen immerhin größtenteils einig. Sogar Linke lobten Trump dafür, in seiner Amtszeit wenigstens keinen neuen Krieg angefangen zu haben. Das lag allerdings vielleicht nur daran, dass er mit den Vorbereitungen für einen Krieg gegen den Iran nicht rechtzeitig fertig geworden ist.
Erinnert sich noch jemand daran, wie unermüdlich uns in den vergangenen zwanzig Jahren von unseren Regierungen erklärt wurde, der Militäreinsatz in Afghanistan sei notwendig und erfolgreich? Auch Deutschland werde am Hindukusch verteidigt? Ursprünglich aus dem Rachebedürfnis der USA nach den Anschlägen von 2001 hervorgegangen, überdauerte die Besetzung Afghanistans auch die Tötung des Terroristenführers Osama bin Laden in Pakistan, der doch ursprünglich als Grund für den Einmarsch angeführt worden war. Alle wissen es und murmeln es auf Anfrage auch kleinlaut: Der Krieg in Afghanistan war ein katastrophaler Fehlschlag, nur im Ausmaß verschieden von der Niederlage der USA in Vietnam. Der militante Fundamentalismus ist nicht nur nicht besiegt, er ist selbstbewusst und stark. Ein paar Tage nach dem Abzug der ausländischen Truppen wird in Afghanistan der köchelnde Bürgerkrieg vollends wieder ausbrechen und wahrscheinlich mit einem Sieg der islamistischen Taliban enden. Dann werden auch dort, wo das nicht heute ohnehin schon der Fall ist, die Mädchenschulen geschlossen und Frauen wieder in Säcke gesteckt. Diese Aussichten sind ebenso widerwärtig wie eine ewige Fortsetzung der westlichen Intervention unmöglich ist. Das Ergebnis von zwanzig Jahren Krieg ist nur eine Lektion: Es ist unmöglich, in einem Land zwangsweise die Demokratie einzuführen, in dem es noch nicht einmal eine bürgerliche Gesellschaft gibt. War diese deprimierende Einsicht das Blut wert, das vergossen worden ist?
Das Schicksal von Afghanistan ist eine Tragödie. Und Deutschland trägt munter dazu bei, die Zahl ihrer Opfer noch zu erhöhen. Beherzt schieben die deutschen Behörden auch während der Corona-Pandemie weiterhin Afghanen in eine Zukunft ab, die nun immerhin nicht mehr ungewiss ist, sondern ganz sicher aus Krieg und Tod bestehen wird. Ein Ende dieser Praxis ist nicht in Sicht, die Politikerinnen und Politiker haben zu große Angst vorm deutschen Volkszorn. Aber wozu überhaupt die Aufregung? Die jungen Afghanen müssten doch nur „für ihr Land kämpfen“ – diesen Satz werden wir gewiss wieder tausendfach aus den Mündern von deutschen Sofahelden hören, die in ihrem Leben noch mit nichts anderem gekämpft haben als mit kaputten Fernbedienungen und abgebrochenen Weinkorken.

Foto: Amac Garbe

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