12. April 2022
Kolumne von Michael Bittner
Der Überfall der russischen Armee auf Befehl Wladimir Putins verwüstet weiter die Ukraine, zwingt Menschen zur Flucht oder raubt ihnen das Leben. Die Diskussion darüber, ob man Putin schon einen Kriegsverbrecher nennen dürfe, bevor ein internationales Strafgericht seine Schuld festgestellt hat, scheint mir albern. Das Wort „Kriegsverbrecher“ kommt mir schon immer wie ein Pleonasmus vor. Denn jeder, der einen Krieg beginnt, ist schon dadurch ein Verbrecher. Es wäre schön, wenn Putin einst vor einem Richter stünde, aber ein Mutiger, der einen Dolch für den Tyrannen hätte, genügte meiner Ansicht nach auch.
Während in der Ukraine in Kellern und auf Straßen zuhauf Leichen von hinterrücks ermordeten, gefolterten, vergewaltigten Menschen gefunden werden, jubeln Russen ausrückenden Truppen zu und wünschen ihnen Glück. Wie groß die Zustimmung zum Krieg in Russland wirklich ist, lässt sich schwer sagen. Offene Gegnerinnen und Gegner des Krieges müssen um ihre Freiheit und ihr Leben fürchten und haben sich ins Schweigen zurückgezogen oder verlassen das Land. Aber die Mehrheit der Russen redet sich wohl wirklich ein, der Angriff sei legitim, um sich so gegen ein schlechtes Gewissen zu wappnen. Und selbst hierzulande demonstrieren einige Russlanddeutsche ihre Unterstützung für Putin und ihre Dummheit, gemeinsam mit vertrottelten AfD-Sachsen und „Friedensbewegten“, die dem Aggressor die Daumen drücken, auf dass dessen Sieg schnellen Frieden bringe.
Wir sollten uns trotzdem hüten, die gegenwärtige Lage als Bestätigung des alten Klischees vom zurückgebliebenen, barbarischen Russland zu sehen. Man erinnere sich nur daran, wie auch eine Mehrheit der US-Amerikaner anfangs den Einmarsch ihrer Truppen in den Irak beklatschte. Dass gerade Deutsche ein wenig Demut bei der Beurteilung von fremden Fehlern an den Tag legen sollten, bedarf wohl auch keiner ausführlichen Erklärung. In der Tat ähnelt die Lage Russlands der des Deutschen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg in mancher Weise: Ein stolzer Staat mit Großmachtanspruch erlebt eine historische Niederlage und große Verluste an Land, Reichtum und Bedeutung. Daraufhin entsteht eine faschistische Bewegung, die mit einem ultranationalistischen Programm geschickt die Minderwertigkeitsgefühle und Revanchegelüste der Bevölkerung zur Eroberung und Erhaltung der Macht nutzt.
Es heißt oft, die gleichgeschaltete Medienmaschine in Russland kontrolliere das Bewusstsein der Bevölkerung. Aber zu Sowjetzeiten gab es auch nur eine veröffentlichte Meinung und die meisten Menschen glaubten ihr kein Wort. Tatsächlich heißt das Problem Nationalismus. Jeder Krieg beweist aufs Neue, dass es so etwas wie gesunden, harmlosen Patriotismus nicht gibt. Patriotismus nennt sich der Nationalismus so lange, bis es ernst wird. Wer einmal davon überzeugt ist, die höchste Verpflichtung eines Menschen sei es, dem „eigenen“ Staat zu dienen, der wird im Fall des Konflikts mit „Fremden“ auch bereit sein, Unrecht zu dulden und zu verüben. Da gehorcht man auch dem Verbrecher an der Macht, solange der nur behauptet, er vertrete die Nation. Aber Nationalismus ist kein Schicksal. Er lässt sich bekämpfen, durch selbstbewussten Individualismus ebenso wie durch alternative Formen menschlicher Solidarität. Absurde Forderungen wie jene, man müsse nun „alle Russen“ als Feinde betrachten, verdoppeln nur die Verblendung, die überwunden werden sollte.
Foto: Amac Garbe