01. Oktober 2020
Kolumne von Dax Werner
In den USA macht seit einiger Zeit ein Meme die Runde, das im Umfeld der Diskussion um die “Black Lives Matter”-Bewegung, der Corona-Pandemie und der Enttäuschung vieler Linker über die Niederlage von Bernie Sanders kursiert: “I just wanna grill” oder, in Anlehnung an die “red” und “blue pill” aus der verschwörungstheoretischen cyberculture, auch “grill pill” genannt. Das Meme karikiert in erster Linie die Mentalität weißer Babyboomer, die die derzeit laufenden sozialen Kämpfe in den USA vordergründig als massive Bedrohung ihrer eigenen Lebensweise begreifen: Während die Antifa und “Black Lives Matter” in der verzerrten Wahrnehmung der Boomer Kleinstadt um Kleinstadt in Schutt und Asche legen, wollen die (aus ihrer Sicht) braven US-Bürger doch einfach nur in Ruhe grillen.
Einen Peak erreichte das Thema mit dem im Juni 2020 weltweit viral gewordenen Foto der Eheleute McCloskey vor ihrer Villa in St. Louis. Beide versuchten mit Gewehr und Pistole bewaffnet ihr Anwesen vor der (ziemlich zusammenfantasierten) Bedrohung durch Demonstranten der “Black Lives Matter”-Bewegung zu verteidigen. Auch wenn damals glücklicherweise niemand verletzt wurde, visualisierte sich hier eine Form von Boomer-Paranoia, die einhergeht mit einer ziemlich privilegierten Müdigkeit über die sozialen Kämpfe gegen gesellschaftliche Ungleichheit. Oder in anderen Worten: Der viel zitierte “Rückzug ins Private” in seiner militantesten Form.
Nach der erneuten Niederlage der Bernie Sanders-Kampagne für die Kandidatur der Demokraten ist die “grill pill” inzwischen jedoch auch zum Motiv bei jungen linken Sanders-Unterstützern geworden. Die Enttäuschung darüber, dass mit Joe Biden wieder ein Kandidat des demokratischen Establishments das Rennen gemacht hat und die auch und vor allem durch viele junge Menschen mitgetragene Bewerbung Sanders abermals das Nachsehen hatte, führt demzufolge zu einem eigenartigen linken “Rückzug ins Private” als Form der Bewältigung. Statt weiterhin mit aller Kraft für eine gerechtere und sozialere Welt zu kämpfen, trifft man sich nun vermehrt gleichermaßen sinnbildlich wie ganz konkret zu Gartenparties und Barbecues und klinkt sich aus “selfcare”-Gründen aus dem politischen Diskurs aus. Dass die Grillparty nicht zufällig als Motiv für dieses Meme herhalten muss, erkennt man daran, dass es zur Etikette des Barbecues gehört, die Thematisierung politisch verschiedener Standpunkte außen vor zu lassen: Beim gemütlichen, gleichermaßen ernst wie ironisch vorgetragenen Grillen hat die Politik mal Sendepause, man möchte gemeinsam eine gute Zeit erleben und klammert die ungemütlichen Themen, also: Politik, stillschweigend aus. Das Private ist plötzlich gar nicht mehr so politisch.
Ich habe mich gefragt: Was hat das mit uns hier und was hat das mit mir zu tun? Der “Urban Dictionary” definiert das “grill pilling” wie folgt: “[T]o have experienced a blithe resignation to the failure of leftist/progressive movements to overcome neoliberalism, electoralism and fascist nationalism; couples with a semi-ironic desire to profess bourgeois attitudes of political apathy, jocular antagonism to politics, and idolize outward symbols of petty materialism, a.k.a. the grill”. Eine Parallele sehe ich in der semi-ironischen Aneignung bürgerlicher Politikverdrossenheit, die sich zum Beispiel in Meme-gewordenen Phrasen wie “Danke Merkel!”, “Die da oben machen eh was sie wollen!” oder ironisch verwendeter Antiamerikanismen, die wie aus 15 Jahre alten “Die Anstalt”-Folgen geklaut klingen, realisiert. Der sich stetig wiederholende Wechsel von Hoffnung und immer noch tieferer Enttäuschung durch und über die SPD, dem sich links verstehende Menschen wie ich in den letzten Jahren zum Beispiel in der Frage der Evakuierung von Moria, verschärfter Asylgesetzgebung der großen Koalition oder dem Sieg von Esken und Walter-Borjans sowie der anschließenden Kanzlerkandidatur von Scholz ausgesetzt sahen, hat verschiedene, zum Teil abstruse Methoden des “coping” hervorgebracht, die einem (mir) am Ende nur noch mehr verdeutlichen, aus was für einer privilegierten Position man eigentlich zu sprechen gewöhnt ist.
Die etwas boomereske Variante des “I just wanna grill”-Memes findet sich jedoch auch hierzulande, das Grillen als Symbol der guten alten Prä-Fridays-for-Future-Zeit fungiert schon länger als politisch extrem aufgeladenes Bild: Ich erinnere mich zum Beispiel noch an einige BILD-Gastbeiträge von Heinz Buschkowsky als Grillexperte mit Schürze und halb abgebissener Grillwurst in der Hand und entsprechenden Fotos, auf denen jeder Pixel zu brüllen scheint: “Ick lass mir dit Grillen nüscht verbieten!” Verwandte Einstellungen lassen sich ganz aktuell auch bei den Teilnehmern der sogenannten Hygiene-Demos erkennen: Die Mund-Nasen-Maske als banalste Form des solidarischen Handelns wird im Kontext der Coronaleugner und Hygienedemonstranten zum unverzeihlichen Eingriff in die persönliche Freiheit gedeutet, als anlassloser Angriff der “Altparteien” auf die bundesdeutsche Normalität, wie sie die Demonstranten einmal kannten. Und auf einer etwas abstrakteren Ebene können auch die regelmäßig mit hoher Energie geführten Debatten um “Cancel Culture” und “Satire” als artverwandte Phänomene des “I just wanna grill”-Motivs ins Feld geführt werden: Komiker und Satiriker, die ihr ästhetisch-politisches Programm irgendwann im langen ironischen Jahrzehnt der Neunziger Jahre entwickelt haben und an der damals gefundenen Formel auch nichts mehr ändern möchten, sehen sich heute regelmäßiger lauter Internetkritik ausgesetzt. Und sie erinnern in ihren Rechtfertigungen und Statements (etwa Dieter Nuhr: “Ansonsten ist Shitstorm an sich, ist ja eigentlich sozusagen, die humane Schwester des Pogroms”) gespenstisch an das bewaffnete Ehepaar aus St. Louis.
Foto: Susi Bumms