15. Mai 2022
Kolumne von Robert Fietzke
Anfang des Monats erschien die Trendstudie „Jugend in Deutschland – Sommer 2022“ der beiden Jugendforscher Simon Schnetzer und Klaus Hurrelmann. Die Studienergebnisse sind tatsächlich ziemlich dramatisch und hätten es verdient, eine breite, gesellschaftliche Debatte auszulösen, aber wie der Bildungsjournalist Bent Freiwald (Krautreporter) schon am 3. Mai bei Twitter prophezeite, kann davon keine Rede sein: „Eines vorweg: Die Studie wird nicht sonderlich viel Aufmerksamkeit bekommen. Weil keine Studie, bei der Jugendliche befragt werden, sonderlich viel Aufmerksamkeit bekommt. Motto: Sollen nicht so meckern, wir hatten es auch schwer, alle verweichlicht, weiter gehts.“
Befragt wurden in der Studie Jugendliche zwischen 14 und 29 Jahren („überwiegend Generation Z“) zu verschiedenen Themen, Einstellungen, Bedürfnissen und Gefühlen. Das Hauptaugenmerk lag dabei auf den Themenkomplexen Psyche, Finanzen, Krieg, Arbeit und Politik. Der am 24. Februar entfesselte Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist also als „Thema“ bereits enthalten, da die Erhebung erst im März dieses Jahres stattfand. Die empirischen Daten sind also „frisch“ und geben einen äußerst aktuellen Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt eines Großteils der jungen Menschen in Deutschland.
Einer der wichtigsten Befunde der Studie bezieht sich auf die Frage, wodurch sich junge Menschen am häufigsten psychisch belastet fühlen. 45% nennen Stress als mit Abstand wichtigsten Faktor. Gleich danach folgen Antriebslosigkeit (35%) und Erschöpfung (32%), also beides typische Symptome für Depressionen. Eine konkrete Depression als belastenden Faktor nennen dann auch 27% der Befragten. 13% fühlen sich hilflos und sage und schreibe 7% geben an, schon mal Suizidgedanken gehabt zu haben oder gegenwärtig zu haben, wobei der eigentliche Wert mit Blick auf Faktoren wie soziale Erwünschtheit oder Scham noch höher liegen dürfte.
Fast die Hälfte der jungen Menschen in Deutschland ist also dauerhaft gestresst, jeder Dritte bis Vierte kennt die Antriebslosigkeit, die Erschöpfung, die Düsternis, die Depression, und fast jeder Zehnte hatte mindestens einmal Suizidgedanken. In einer Gesellschaft, die sich ernsthaft für ihren eigenen Nachwuchs und die eigene Zukunft interessieren würde, wären solche Zahlen Anlass für breite Debatten auf allen Ebenen, Sondersendungen im TV und politische Krisen-Gipfel. Aber diese Gesellschaft ist keine solche. Sie ist eine Gesellschaft der Erwachsenen. Gestaltet von Erwachsenen, gemacht für Erwachsene und letztlich auch verteidigt von Erwachsenen, auch wenn die Kinder und Jugendlichen von heute selbst immer früher erwachsen werden müssen, weil die Krisenhaftigkeit dieser Zeit ihnen keine andere Wahl lässt.
Welche Themen bereiten jungen Menschen gerade die meisten Sorgen? Hierbei wurde die Klimakrise (55%) durch den Krieg (68%) abgelöst. Danach folgen die Inflation (46%) und die Angst vor einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft (40%). Bei allen Themen handelt es sich um spezifische Krisen, die sich voneinander abgrenzen lassen, aber dennoch miteinander zu tun haben, also Interdependenzen aufweisen:
Der Krieg als jederzeit größte Krise der menschlichen Zivilisation, mit all seinen Dimensionen in der Außenpolitik, der Diplomatie, der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, dem globalen Handel, der Ernährung, der Militarisierung vieler Lebensbereiche. Der Krieg als tägliches Damoklesschwert, weil nahezu täglich mit dem Einsatz eines nuklearen Potentials gedroht wird, das weite Teile der Weltmenschheitsgesellschaft innerhalb von Minuten vernichten würde.
Die Klimakrise als existenzielle, für die gesamte Menschheit – und ungezählte andere Arten – lebensbedrohliche Katastrophe im immer rasanteren Schneckentempo, denn laut IPCC-Bericht bleiben noch höchstens drei Jahre, um eine echte Kehrtwende einzuleiten. Tick, tack, tick, tack.
Die ökonomische Krise, die sich viel komplexer darstellt, als es Inflationszahlen abbilden könnten, und zum Kapitalismus gehört wie der Wind zur See. Die Krise der Energiekosten, der Wohnkosten, der Ernährungskosten, der Gesundheitskosten, der Rohstoffkosten. Die Krise, die die Massen ärmer macht und die Wenigen noch viel, viel reicher, so reich, dass sie sich weltweit genutzte soziale Netzwerke quasi im Vorbeigehen kaufen können.
Und nicht zuletzt die Demokratiekrise, die gesellschaftliche Spaltung, die seit vielen Jahren und Jahrzehnten von statten geht, die weltweit neue autoritäre Systeme gebiert und neue Faschismen real werden lässt. Sie stellt letztlich auch eine existenzielle Bedrohung für die gesamte Menschheit dar, weil Autokratien und rechtsautoritäre Despotien nicht nur zwangsläufig Kriege anzetteln, sondern auch jede internationale Kooperation erschweren, was aber schlichtweg die Grundbedingung dafür ist, die Klimakatastrophe noch abwenden zu können.
Krise, Krise, Krise, da fehlt doch noch (mindestens) eine? Genau, die Corona-Krise, die zwar für viele Menschen und offenbar auch immer mehr Jugendliche gelöst zu sein scheint, aber keineswegs vorbei ist. Hier gaben übrigens 46% der befragten 14- bis 29-Jährigen an, dass die Corona-Krise ihre psychische Gesundheit verschlechtert habe, bei 31% hätten sich die Beziehungen zu Freund*innen verschlechtert, bei 28% die eigene Gesundheit und bei 25% die schulischen und beruflichen Perspektiven.
Wir haben es also zu tun mit einer Situation, in der die heutige Jugend eine von Erwachsenen kaputt gemachte Welt vorfindet, in der die Krise kein ab und zu mal auftretendes Ereignis ist, sondern der Normalzustand. Die Omnipräsenz der miteinander verketteten und verknüpften Vielfach-Krise wirkt wie eine gigantische Dampfwalze, die sämtliche Zukunftsperspektiven junger Menschen plattzumachen scheint. Wer beschäftigt sich schon mit langfristiger Lebensplanung, wenn es eh jeden Tag vorbei sein könnte, weil Putin doch auf die Idee kommt, dass Warschau, Berlin und Paris jetzt ausgelöscht gehören? Wer denkt daran, fleißig Rentenpunkte zu sammeln, wenn es in einigen Jahrzehnten in einer 3°-Welt um das nackte Überleben gehen könnte? Gleichzeitig werden sie mit der Notwendigkeit, sich in dieser defekten Menschheitswelt zu orientieren, weiterhin allein gelassen. Das Interesse der Erwachsenengesellschaft an dem, was ihr kolossales Versagen in den letzten Jahrzehnten für die Zukunftsaussichten der Jugend bedeutet, ist weiterhin marginal. Davon konnten sich alle schon überzeugen, als Fridays for Future vor etwas mehr als drei Jahren auf den Plan trat, absolut vernünftige, weil lebensrettende Forderungen stellte, die Debatte sich aber vor allem um die Verletzung der Schulpflicht drehte. Und der Umgang mit jungen Menschen während der gesamten Dauer der Corona-Krise spricht sowieso Bände. Tut uns echt super leid, aber für Luftfilter hat diese stinkreiche Gesellschaft leider kein Geld.
Da es keinerlei Anlass gibt, zu glauben, es könnte sich substanziell etwas an der Ignoranz gegenüber jungen Menschen und ihren Forderungen ändern, bleibt diesen wohl nichts anderes übrig, als sich die Welt selbst anzueignen und eine neue zu bauen. Es geht nicht darum, zu reparieren, was nicht zu reparieren ist, sondern das zu überwinden, was ultimativ ursächlich für den Horror ist, den wir Gegenwart nennen. Es geht darum, einen im Wortsinne radikalen Kampf um die Zukunft zu führen, an dessen Ende eine, unter erschwerten Klimabedingungen, neue Gesellschaft existiert, in der man aber überhaupt noch ein gutes Leben führen kann – mit neuen Wurzeln, die mehr Zukunft zulassen als die Wurzeln der alten Gesellschaft. Mit neuen Wurzeln, die ein stressfreieres Leben ermöglichen. Mit neuen Wurzeln, die weniger Anlass für Depressionen bieten. Mit neuen Wurzeln, die Hoffnung, Mut und Zuversicht wachsen lassen. Generation Z wie Zukunft.
Foto: Robert Fietzke