16.September 2020
Kolumne von Robert Fietzke
Tausende Menschen, die vor unterdrückerischen Regimen, vor Krieg, Folter und Armut geflohen sind, werden über Jahre hinweg in ein viel zu kleines Lager auf einer Insel eingepfercht. Viele von ihnen sind Kinder. Die hygienischen Bedingungen sind katastrophal. Es gibt kein fließendes Wasser. Ein gefährliches Virus, das weltweit grassiert und bereits über 900.000 Todesopfer gefordert hat, gelangt in das Lager. Zelten brennen lichterloh. Menschen, die fliehen und alles zurücklassen mussten, fliehen erneut, diesmal vor den Flammen, die das gesamte Lager in Schutt und Asche legen. Tausende Menschen, die über Nacht obdachlos geworden sind, kein Dach über dem Kopf haben, auf der Straße übernachten müssen, oder auf Friedhöfen, die verzweifelt sind und nicht wissen, was mit ihnen geschieht, die weder nach vorn noch zurückkönnen, und schon gar nicht runter von dieser verdammten Insel. Es gibt nichts zu essen und noch weniger Wasser, sodass einige beginnen, kontaminiertes Abwasser zu trinken, von dem sie krank werden. Reizgas liegt in der Luft. Kartuschen so groß wie Pflastersteine fliegen durch die Luft, gegen menschliche Körper. Die Staatsgewalt verschont auch Kinder nicht. Einige von ihnen erleiden Brandverletzungen und das nächste Trauma, das sie ihr Leben lang begleiten wird. Ein Baby wird bereits zehn Tage nach seiner Geburt mit dem europäischen Konzept von „Wertegemeinschaft“ konfrontiert, atmet Tränengas ein, muss vier Tage in Folge im Freien übernachten, erbricht des nachts.
Was wie ein Trailer eines dystopischen Endzeit-Thrillers daher kommt, ist die erschütternde Realität europäischer Anti-Flüchtlingspolitik im Jahr 2020. Doch Moria ist kein neues, in einzigartiger Weise erschreckendes Fanal, das aus heiterem Himmel gekommen wäre, sondern die logische Konsequenz eines technokratischen Migrationsregimes, das über Jahrzehnte entwickelt worden ist und auf zwei zentralen Prämissen basiert: Abwehr und Abschreckung. Auch wenn der Fingerzeig auf die autokratisch regierten Staaten wie Ungarn und Polen richtig ist, die der oft beschworenen „europäischen Lösung“ im Wege stünden: Auch Deutschland hat einen entscheidenden Anteil an dieser Realität und der spezifisch deutsche Fußabdruck in dieser Frage ist vor allem ein Produkt innenpolitischer Auseinandersetzungen der letzten 40, 50 Jahre.
Alte Asyl-Debatte aus neuen Schläuchen
Die „Asyldebatte“ ist in Deutschland viel älter als die Wiedervereinigung. Bereits in den 1970er-Jahren drängten politische und mediale Akteur*innen auf Einschränkungen des Rechts auf Asyl, welches als historische Lehre aus den Menschheitsverbrechen der Deutschen mit Artikel 16 den Weg in das Grundgesetz gefunden hatte. Mehrere Schlagworte, die wir aus den aktuellen Auseinandersetzungen kennen, fielen schon damals: „Asylmissbrauch“, „Scheinasylanten“, „Wirtschaftsflüchtlinge“. Unter Kanzler Helmut Schmidt (SPD) wurde die Rechtswegegarantie abgeschafft und 1982 das Asylverfahrensgesetz eingeführt, das vor allem Verschärfungen und Elemente der Abschreckung enthielt. Unter anderem wurde die Regelunterbringung in Gemeinschaftsunterkünften und die Residenzpflicht eingeführt. Auch der Zugang zur medizinischen Grundversorgung wurde eingeschränkt. Ab 1986 – inzwischen war Helmut Kohl (CDU) Bundeskanzler – galt dann ein fünfjähriges Arbeitsverbot für Asylbewerber*innen. Doch CDU, FDP, einigen Medien wie der BILD oder dem SPIEGEL und letztlich auch der oppositionellen SPD gingen die Verschärfungen nicht weit genug, so dass am 26. Mai 1993, im wiedervereinigten Deutschland, nur Monate nach den Pogromen in Rostock-Lichtenhagen das Grundrecht auf Asyl mit dem „Asylkompromiss“ faktisch abgeschafft und durch das „Drittstaatenprinzip“ ersetzt wurde. Drei Tage später wurden fünf Menschen bei einem rassistischen Brandanschlag in Solingen ermordet.Ein kurzer Blick auf einige Plakate und Titelseiten von damals zeigt, wie entscheidend der politisch-gesellschaftliche Diskurs letztlich für die massive Einschränkung von Grund- und Menschenrechten war – und ist:
CDU-Wahlplakat Bremen, 1991: „Asylmissbrauch beenden. Schein-Asylanten konsequent abschieben. Grundgesetz ändern“
BILD-Schlagzeilen aus dem Jahr 1990: „Die Flut steigt – wann sinkt das Boot?“, „Fast jede Minute ein neuer Asylant“, „Asylanten jetzt auf Schulhöfe – Neue Welle! Und bis Weihnachten kommen noch 40.000.“, „Wohnraum beschlagnahmt. Familie muss Asylanten aufnehmen.
SPIEGEL-Titelseiten 1991: „Flüchtlinge, Aussiedler, Asylanten – Ansturm der Armen“ oder „Asyl – Die Politiker versagen“ (wobei der SPIEGEL hier sogar Polizeibeamte in das Foto, das eine Schlange „heranstürmender“ Männer zeigt, hinein manipulierte)
Das alles geschah wohlgemerkt nicht trotz, sondern wegen der rassistischen Pogrome, Hetzjagden und tödlichen Mordanschläge Anfang der 1990er – Eine schnelle „Belohnung“ und Ermächtigung für die rassistischen Gewalttäter und Mörder dieser Zeit, in der sich die Mörder von morgen politisierten, das NSU-Trio, der Mörder von Dr. Walter Lübcke und viele mehr.
Jahrzehnte der Diskursverschiebung tragen vergiftete Früchte
Heute, fast dreißig Jahre später, sitzt der parlamentarische Arm des Rechtsterrorismus in jedem Landesparlament und in jedem Bundestag, FDP-Kandidaten, die mit Ach und Krach 5% geholt haben, lassen sich mit Nazi-Stimmen zum Ministerpräsidenten wählen und die Unions-Parteien liefern sich auch noch heute einen Wettstreit mit ihren politischen Konkurrenten von ganz Rechtsaußen, wer die härteste Linie gegen geflüchtete Menschen fährt. „2015 darf sich nicht wiederholen“ tönt es wieder allenthalben.
Heute ist ein Gewächs dieser Unions-Parteien – Ursula von der Leyen trat der CDU im Jahr 1990 bei – Präsidentin der EU-Kommission und damit eine der mächtigsten Persönlichkeiten weltweit. Schon im März machte sie deutlich, dass die Linie kalter Härte auch die ihre sein wird, als sie in Manier einer Heerführerin sich vom Helikopter aus einen Überblick über die Lage an der türkisch-griechischen Grenze verschaffte und den griechischen Grenzwächtern ihren tief empfundenen Dank aussprach. Sie seien „unser europäisches Schutzschild“. Damit hatte rechtsextremes Identitären-Vokabular Einzug in den Sprachschatz der EU-Führung gefunden. Glückwunsch. Der „europäische Schutzschild” schoss dabei übrigens scharf und ermordete mindestens zwei Menschen.”
Und auch heute, im Zuge der Grausamkeiten von Moria, liefern sich diverse Kommentator*innen des medialen Blätterwalds einen Überbietungswettbewerb darin, wer die härteste, empathieloseste Formulierung hinbekommt. Ist es Alan Posener (WELT), der proklamiert „Stehen wir doch zu unserer Unmenschlichkeit. Die übrigens gemäßigt ist. Auf der Ferieninsel Lesbos geht es allen besser als dort, wo sie herkamen.“ – Gemäßigte Unmenschlichkeit. Ferieninsel Lesbos. Was bitte? Oder ist es Silke Hasselmann vom DLF Kultur, die kommentierte: „Nun gehen Fotos von Kindern um die Welt, die nach dem Brand des Lagers Moria auf dem Straßenasphalt schlafen. Doch solange der Verdacht im Raum steht, dass Lagerbewohner selbst das Feuer gelegt haben, darf Deutschland niemanden von dort holen.“? Also „Sippenhaft“ wegen eines bisher überhaupt nicht belegbaren Verdachtes, den die autoritäre griechische Führung in die Welt gesetzt hat?
Verrohtes Bürgertum
All das, die 20.000 Toten, die seit 2014 auf dem Weg nach Europa ertrunken sind, obwohl sie hätten gerettet werden können, der Einsatz scharfer Waffen an den Außengrenzen, die illegalen Pushbacks, die dokumentiert sind, die Kriminalisierung und Behinderung der zivilen Seenotrettung, die Zusammenarbeit mit Folter-Regimen wie Libyen, und letztlich auch der grausame Umgang mit den auf Lesvos gestrandeten Menschen, wäre undenkbar ohne den politisch-gesellschaftlichen „Asyldiskurs“. Dieser Diskurs ist Vorläufer und Legitimationsrahmen zugleich für jedes konkrete Handeln (oder Nicht-Handeln) der europäischen Autoritäten. Er ist der fruchtbare Boden, auf dem jede weitere Unmenschlichkeit gedeihen und legitimiert werden kann. Der Diskurs ist das warme, kuschelige Bett, in das sich das europäische Bürgertum unbesorgt, satt und zufrieden legen kann, während an den Außengrenzen ertrunken, gehungert und verdurstet wird. Dabei läuft er vor allem auf eines hinaus:
Entmenschlichung
Menschen, die ihre Heimat zurücklassen mussten, zu Zahlen und Nummern zu degradieren, die willkürlich und selektiv durch die Luft geworfen werden. 2000, 400, 150, wer bietet weniger? Menschen, die auch vor den Kriegseinsätzen und Waffen der europäischen Staaten fliehen, elementare Menschenrechte zu verweigern, indem sie zu ewig „Fremden“, zu „Invasoren“ gemacht werden. Menschen, die auf der Flucht sind, in letzter Konsequenz das Menschsein abzusprechen.
Ich frage mich: Wo wird diese Entmenschlichung enden? Welche Maßnahmen wird dieses Europa gegen die Geflüchteten der Zukunft ergreifen, die vor allem vor den Auswirkungen der Klimakrise fliehen müssen, für die ja zuvorderst der superreiche Welt-Norden mit seinen gigantischen Emissionen verantwortlich ist? Und was muss die glücklicherweise größer und größer werdende Solidaritätsbewegung in Europa eigentlich noch alles tun, um die Reste dessen zu verteidigen, was sich „Wertegemeinschaft“ nennt?
Foto: Robert Fietzke