23. November 2022
Kolumne von Özge Inan
Das türkische Regime hat nicht lange gefackelt. In der Nacht von Samstag auf Sonntag vergangener Woche startete die Luftoffensive, die Innenminister Süleyman Soylu schon eine knappe Woche zuvor angekündigt hatte. Kurz nach der Festnahme einer ersten Tatverdächtigen im Zusammenhang mit dem Bombenanschlag in der Istanbuler Istiklal-Straße hatte Soylu „Vergeltung“ angekündigt. Details zur Offensive sind unklar, laut der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden bisher 31 Menschen getötet, außerdem kursieren Angaben über die Tötung eines Reporters sowie die Zerstörung eines Krankenhauses und eines Weizensilos. Das wären Kriegsverbrechen. Internationale Untersuchungen dieser Vorwürfe sind nicht in Sicht.
Die Offensive insgesamt ist jedenfalls völkerrechtswidrig: zwar beruft sich die Türkei wegen des Istanbuler Anschlags auf ihr Selbstverteidigungsrecht. Dieses umfasst aber keine Vergeltungsschläge – also das, was die Türkei seit einer Woche rauf- und runterpredigt.
Parallel dazu geht in der iranischen Stadt Mahabad, dem Zentrum von Iranisch-Kurdistan, ein Massaker vor sich. Die Region war 1946 ein Jahr lang als Republik Kurdistan autonom. Augenzeugen berichten jetzt, dass das Regime mit Panzern in die Stadt einmarschierte und wahllos auf Demonstrierende sowie in Wohnhäuser schoss. Videos zeigen militärische Konvois durch die Straßen fahren, in anderen sind Schreie und Maschinengewehrschüsse zu hören. Die Mullah, das wird deutlich, wollen ein Exempel statuieren. Es ist kein Zufall, dass sie sich dafür widerständige Kurden aussuchen. Denn obwohl sich die sogenannte internationale Gemeinschaft mit den Protesten im Iran solidarisch erklärte, blieb die neue Eskalationsstufe in Mahabad bisher weitgehend unbeachtet.
Die Geschichte der Kurden ist eine Geschichte der Kolonisierung. Dieser Zustand ist älter als die Islamische Republik Iran, älter als die Türkei, älter noch als die Erfindung der Nationalstaaten überhaupt. Eines aber blieb durch die Jahrhunderte gleich: die Regime, die sie unterdrücken, können sich darauf verlassen, dass ihnen niemand beisteht. Selbst, nachdem sich kurdische Milizen in beispielloser Weise um Demokratie, Freiheit und Gleichberechtigung verdient machten, indem sie den IS besiegten, sind ihre Gebiete den Attacken der Türkei schutzlos ausgeliefert. Obwohl im Iran lebende Kurden die ganze Welt hinter ihrer Losung „Jin, Jiyan, Azadi“, „Frau, Leben, Freiheit“, versammelten, können die Mullah sie ungehindert abschlachten. Selbst Jina, den kurdischen Namen der jungen Frau, deren Ermordung die Proteste auslöste, liest man kaum, die Welt kennt sie als Mahsa. Für Kurden gibt es kein Völkerrecht, keine internationalen Standards, keine viel beschworene regelbasierte Weltordnung. Auch in diesen dunklen Tagen haben sie, um es mit einem Spruch aus der Diaspora zu sagen, „no friends but the mountains“: keine Freunde außer den Bergen.
Foto: Timo Schlüter