06. September 2021
Das Spannende an Seefahrten ist ja immer, daß man am Morgen nie weiß, was am Abend passiert sein wird.
Und manches kann ganz schön plötzlich passieren.
Nachdem mich mein Wecker um 03:30 unerbittlich daran erinnerte, daß ich zu dieser Uhrzeit das Bett verlassen wollte, kletterte ich in meinem Fünf-Mann-Deck aus der allerobersten Koje.
Dabei versuchte ich, relativ erfolglos, niemanden zu wecken und stand 15 Minuten später auf der Brücke um Felix, den Ersten Offizier, abzulösen.
Da die Eingänge zum Englischen Kanal und er selbst sehr stark befahrene Seegebiete sind, startete das erste Ausweichmanöver schon ein paar Minuten nachdem die Wache übernommen war.
Das ist ganz gut, man bleibt dann selbst am sehr frühen Morgen wach und konzentriert.
Eine Wache auf der ,,Rise Above‘‘ besteht aus einem Offizier, der das Schiff fährt und einem Besatzungsmitglied des technischen Bereiches, das bei aufkommenden Fehlern an Maschine oder Elektronik kompetent helfen kann, sowie mich mit seinem zweiten Paar Augen beim Ausschau halten nach sonstigen Schiffen unterstützt.
Diesen technischen Part hatte heute Leon inne.
Leon wurde in Hamburg geboren, wuchs in Berlin auf, absolvierte dort eine Ausbildung zum Elektroniker und ging nach deren Abschluss drei Jahre auf Wanderschaft, auf der er im elektronischen Bereich, aber auch auf Baustellen und in der Landwirtschaft arbeitete.
Nach seiner Rückkehr begann er ein Studium in Hamburg und erfuhr, daß ,,Mission Lifeline‘‘ einen Elektriker suchte.
Er meldete sich, half die letzten Monate beim Umbau des Schiffes, kennt jeden Winkel und fährt jetzt neben seinem Studium auf dieser Verlegungsfahrt mit.
Bei einem Rundgang durch den Maschinenraum stellte er in dieser Wache eine kleine Leckage fest, wegen der wir Schiff und Maschine stoppen mussten.
Für Jim, den Chefingenieur, wie immer kein Problem und 10 Minuten später ging es mit wieder dichtem Motor weiter.
Der Tag blieb sonst bis zum Abend erfreulich ereignislos, die See ruhig und der Wind sanft.
Wir übernahmen unsere nächste Wache um vier Uhr am Nachmittag.
Bis auf den dichten Verkehr im Kanal gab es bis kurz nach sieben Uhr nichts Besonderes zu berichten.
Da fiel Leon beim Ausschau halten ein schwarzer Schatten im Meer auf.
Als wir näher heranfuhren entdeckten wir eine Szene, die man sonst eher aus dem Mittelmeer kennt:
Zwischen Dover und Calais trieben zwei große Gummiboote, gefüllt mit Motorradschläuchen, die bei einem Untergang als Rettungsmittel dienen sollen, ein paar trieben um die Boote herum.
Es gab aber keine Spur der Menschen, die wohl noch vor kurzem darin saßen.
Wahrscheinlich waren es Flüchtlinge, die, getrieben durch Perspektivlosigkeit auf dem europäischen Festland, immer öfter versuchen Großbritannien zu erreichen.
Teils als blinde Passagiere in Lastern, teils in Zügen, aber eben auch auf Schlauchbooten.
Die Überfahrt ist zwar nicht so weit wie die im Mittelmeer, aber dennoch nicht minder gefährlich, da, zusätzlich zu kälterem Wasser und damit kürzerer Überlebenszeit im Falle eines Schiffsbruchs, Wetterumschwünge und dichter Verkehr sowie starke Gezeitenströme auftreten können.
Die britische Küstenwache bemerkte, daß wir gestoppt hatten, funkte uns an, wollte wissen, was uns zum Stoppen gezwungen hatte und forderte uns nach der Meldung der zwei Boote zum Weiterfahren auf, dieser Sachverhalt sei ihnen bereits bekannt.
Wir kamen der Aufforderung nach und befinden uns jetzt wieder auf Kurs Richtung Südwesten, unserem nächsten Ziel entgegen.
Mal sehen, ob und was uns am morgigen Tag erwartet, womit wir heute noch nicht rechnen.
Ich bin gespannt.
Fotos: Leon Salner