16. Januar 2022
Kolumne von Robert Fietzke
Das Unwort des Jahres 2021 steht fest: Pushback. Das englische Wort für „zurückdrücken“ oder „zurückdrängen“ konnte sich gegenüber Begriffen wie „Sprachpolizei“, „Impfnazi“ oder „Ermächtigungsgesetz“ als besonders unwortig durchsetzen. Nach dem Dobrindt-Terminus „Anti-Abschiebe-Industrie“ (2018) und dem unvergleichlich zynischen „Rückführungspatenschaften“ (2021, zusammen mit „Corona-Diktatur“) schaffte es damit erneut ein Begriff aus der Migrationsdebatte auf das unrühmliche oberste Podest. Die Jury der sprachkritischen Aktion setzt damit gegen den Trend der allgegenwärtigen Corona-Debatte einen anderen wichtigen Akzent.
„Pushback“ bedeutet natürlich nicht nur das, was es übersetzt bedeutet, sondern gibt einer bestimmten Praxis der Migrationsabwehr einen Begriff. „Pushback“ beschreibt die rechtswidrige Praxis, flüchtende Menschen an See- oder Land-Grenzen „zurückzudrücken“, auf Territorium, auf dem der Tod wahrscheinlicher ist als das Überleben. In den letzten Jahren sind Pushbacks durch europäische Staaten und Behörden (Frontex) im Mittelmeer immer häufiger geworden, um nicht zu sagen: Zur Regel. Zwischen März 2020 und April 2021 hat allein Frontex über 130 illegale Pushbacks in der Ägäis durchgeführt. Dabei wurden Flüchtlingsboote in griechischen Gewässern gestoppt und der griechischen Küstenwache „übergeben“, die dann wiederum die Motoren zerstörte, um die nun manövrierunfähigen Boote in türkische Gewässer zurückzuschleppen. In vielen Fällen wurden Menschen, darunter auch Kinder und schwangere Frauen, auf aufblasbaren „Rettungsinseln“ ausgesetzt und trieben tagelang im Meer. Manchmal fielen auch Schüsse. Die deutsche Regierung, allen voran das Seehofer-Ministerium, hatte jederzeit Kenntnis von diesen Praktiken. Im Einzelfall halfen das deutsche Innenministerium und die Bundespolizei sogar dabei, bestimmte Vorfälle zu verschleiern.
Im Zuge der Humanitätskrise an der polnisch-belarussischen Grenze sind Pushbacks nun auch zu einem wahrgenommenen Problem auf dem europäischen Festland geworden. Die von brutalen Misshandlungen begleiteten Pushbacks durch kroatische Polizisten auf der Balkanroute haben dazu offenbar nicht ausreicht. Nur wenige Flugstunden von Berlin entfernt drücken also seit Monaten polnische Truppen Geflüchtete hinter die Grenze zurück, wo sie sich selbst und den erbarmungslosen Witterungsbedingungen im Winter überlassen werden. Mindestens 14 Menschen sind dort aufgrund dieser tödlichen Praxis ums Leben gekommen, sind in tiefen Wäldern erfroren oder verhungert, darunter auch Kinder. Das jüngste Opfer war ein gerade eins gewordenes Baby aus Syrien. Auch in diesem Konflikt hält Deutschland der europäischen Partnerregierung, in diesem Fall der polnischen, bisher den Rücken frei. Als Horst Seehofer noch in Amt und Würden war, ließ er sich sogar zu regelrechten Lobeshymnen hinreißen: „Was Polen in der Migrantenkrise macht, ist richtig. Was Polen hier an der Außengrenze macht, dient der gesamten EU und vor allem Deutschland.“. Es „dient“ also der gesamten EU und Deutschland, dass Menschen, dass Familien, dass Kinder in europäischen Wäldern sterben? Ekelhaft.
Auch die neue Ampel-Koalition hat an diesem Kurs zwischen offener Unterstützung und Appeasement bisher nicht viel verändert. Bei ihrem Antrittsbesuch in Warschau musste ein einziger Termin auf Annalena Baerbocks Liste gestrichen werden: Ein Treffen mit Repräsentant*innen von NGOs, die im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus aktiv sind. Keine Zeit mehr. Kritik an der Praxis Polens verbleibt maximal auf der Verbalebene, hat aber sonst keinerlei Folgen. Man ist sich vor allem einig darüber, dass Aljaksandr Lukaschenko die alleinige Schuld am tödlichen Drama zwischen Minsk und Warschau trägt. Bloß „nicht erpressen lassen“, ansonsten könnte man dabei ja noch Menschenleben retten.
Dabei sind Pushbacks nicht nur irgendeine menschenrechtswidrige Methode unter vielen. Sie sind, in der Fülle und Kontinuität, in der sie seit nunmehr mehreren Jahren Anwendung finden, nichts weniger als die letzte Ölung für das europäische Asylsystems. Die europäischen Staaten, von denen nicht gerade wenige auf das Ende dieses lästigen Grundrechts hinarbeiten, wissen ganz genau, was sie tun: Die Verhinderung der Inanspruchnahme des Rechts, einen Asylantrag zu stellen. Sie wissen genau, dass sie die Menschen damit in rechtliches Niemandsland zurückschieben, in dem kein Staatsanwalt von Amts wegen ermitteln kann, kein Anwalt die Interessen seiner Mandant*innen vertreten kann, kein Betroffener vor einem ordentlichen Gericht klagen kann. Und sie wissen genau, dass jeder Pushback den Tod der betroffenen Menschen zur Folge haben kann.
Wenn man so will, ist der Pushback gerade das schärfste Schwert der europäischen Asylverhinderungspolitik. Es ist effektiv und es ruft kaum Widerstand hervor, außer von denjenigen, die ohnehin seit Jahren gegen Windmühlen aus Ignoranz und Gleichgültigkeit ankämpfen und trotzdem niemals müde werden, darauf hinzuweisen, dass es ein Verbrechen ist, Menschen im Mittelmeer wissentlich ertrinken zu lassen. Die europäischen Gesellschaften sind in in ihren Abschottungsprozessen bereits so weit vorangeschritten, dass selbst der hundertfache, offene Rechtsbruch kaum noch eine Emotion bei „aufrechten Demokraten“ auslöst. Es hat sich längst ein Herrschaftssystem entwickelt, das unverhohlen auf geltendem Recht herumtrampelt und Jahr um Jahr austestet, welche Rechtsbrüche die Öffentlichkeit einem noch so durchgehen lässt. Oder um es mit einer gespiegelten Seehofer’schen Formel zu sagen: „Wir haben im Moment keinen Zustand von Recht und Ordnung. Es ist eine Herrschaft des Unrechts.“
Die Frage ist, wo das endet, wenn Demokratien ihre demokratischen Grundsätze von innen heraus beenden.
Foto: Robert Fietzke