19. August 2021
Kolumne von Nicole Schöndorfer
Seit jeher versagen etablierte österreichische Medien, wenn es um Konflikte außerhalb der europäischen und westlichen Machtzentren geht. Nicht, dass sie im Gegenzug zumindest in diesen Belangen herausragende Arbeit leisten würden. Doch es ist geradezu erstaunlich, mit welch schamloser Selbstgerechtigkeit, Ignoranz und Arroganz, kombiniert mit einem sturen Unwillen, über den eigenen zur objektiven Realität erhobenen Tellerrand hinaus zu blicken, über politische Ereignisse in der kolonisierten Welt berichtet wird. Gleich, ob es nun um Lateinamerika, den sogenannten MENA-Raum oder Süd- und Zentralasien geht.
Dass es oft extra Korrespondent*innen gibt, ändert daran kaum etwas. Orientalismus, Rassismus, Paternalismus, Geschichtsrevisionismus und eine bis heute ungebrochene Hörigkeit gegenüber der imperialistischen Kriegspropaganda der USA (inklusive obligatem Antikommunismus) machen die Berichterstattung zu einem unverdaulichen Brei aus Entmenschlichung, simplifizierten bis faktisch falschen und ethisch und moralisch verkommenen Narrativen, den man nicht länger schlucken sollte.
Das jüngste Beispiel liegt auf der Hand: Afghanistan. Ein zerstörtes Land, ein weiterer Kriegsschauplatz, vielmehr ein Spielplatz auf dem Rücken der afghanischen Bevölkerung, jahrzehntelang benutzt und ausgebeutet im Zuge der langen Besatzung der USA, wurde von denselben nunmehr blutend zurückgelassen. Sie haben alles geholt, was es zu holen gab, Menschen, Kultur und Ökologie vernichtet und sich mit vollen Taschen aus dem Staub gemacht.
Die fundamentalistischen Taliban haben daraufhin fast das ganze Land in wenigen Tagen an sich gerissen. Hervorgegangen ist die Terrormiliz einst aus den Mujahideen, die bereits ab 1979 unter Präsident Jimmy Carter von den Staaten rekrutiert, aufgerüstet und finanziert worden waren. Die von der CIA durchgeführte “Operation Cyclone” ist schon lange kein Geheimnis mehr und doch wird man in kaum einem bürgerlich-liberalen österreichischen Medium viel dazu finden.
Auch, wenn die post 9/11-Erzählung von der 2001er Intervention “für mehr Demokratie” mittlerweile bröckelt und sogar alles andere als progressive politische Persönlichkeiten wie Hillary Clinton aufgegeben haben, die eigene Kriegstreiberei zu verharmlosen, wirkt sich das auf die österreichische, auch deutsche und sonstige europäische Medienberichterstattung nur vorsichtig aus. Dieser zentrale Kontext der imperialistischen Gewalt der USA bleibt häufig ein Nebensatz.
Stattdessen wird Afghanistans verheerende humanitäre Situation naturalisiert, das Leid der Menschen zur Normalität erklärt, die man hinnehmen müsste und nicht ändern könnte. So ist das bei denen, sie sind verdammt zu dieser Existenz. Wir kennen schließlich auch kaum andere, humanisierende Bilder von Afghanistan, vom Leben dort. Schrecklich, gewiss, aber was soll man tun, wieso sollte man sich für diese Menschen einsetzen und verantwortlich sehen? In den allermeisten Berichten werden führende europäische Politiker*innen zitiert, dass man die Situation zwar bedaure, aber keine Flüchtenden aufnehmen werde, weil man das “unseren” Leuten nicht – wie 2015, das Jahr, das Rechte und Bürgerliche seit jeher als Untergangsszenario framen – zumuten könnte. Absurderweise wird dann von Hilfe vor Ort gesprochen, während gerade alle, die nur irgendwie können, das Land so schnell wie möglich verlassen wollen (und größtenteils scheitern).
Nicht unabhängig vom in österreichischen Medienhäusern so verbreiteten historischen Unwissen über und Desinteresse an der Region sowie von der rassistischen Gleichsetzung von jihadistischen Taliban-Anhängern mit regulären afghanischen Männern ist ein weiterer verstörender Aspekt der aktuellen Berichterstattung: Viele tatsächliche Expertinnen und Afghaninnen vor Ort und in der Diaspora warnen, dass die Taliban sich in einer großen PR-Offensive befinden, in der Sprecher ankündigen, demokratisch regieren zu wollen.
Wie reagieren österreichische Medien? Das klingende Vorhaben der Taliban wird breit zitiert, diskutiert und ins Zentrum der Berichte gestellt. Auslandsredakteurinnen werden gefragt, wie ernst man das nehmen könne und während natürlich niemand behauptet, die Taliban wären besonders vertrauenswürdig, werden Afghaninnen zitiert, die der Machtübernahme (aus unterschiedlichen Gründen) gleichgültig gegenüberzustehen scheinen und absolut realitätsferne Theorien aufgestellt wie “Wenn die Taliban ihren Willen kriegen, kann die Übergabe gewaltlos ablaufen”.
Wer sich im Zuge globaler Ereignisse aus besagten Gründen von bürgerlich-liberalen Medien abwendet, hat in sozialen Medien zur selben Zeit Berichte über Exekutionen, Entführungen und bestürzende Bilder vom überfüllten Flughafen in Kabul gesehen: Menschen, so verzweifelt, dass sie sich an den Rädern eines startenden Flugzeugs festhalten und nach wenigen Sekunden in der Luft zurück auf den Boden prallen.
Es scheint auf der Hand zu liegen, dass diese Menschen nicht an eine demokratische Herrschaft der Taliban glauben. Es ist beschämend und fahrlässig, wie immer schon und gerade jetzt über Afghanistan berichtet wird. Zu selten schaffen es einige wenige freie Journalistinnen und externe Expertinnen – mit Glück sogar mit Bezug zum Land – in klassische Formate, die ein großes Publikum erreichen. Davon abgesehen ist ihre essentielle Position dann immer noch eine von mehreren (verzerrten, falschen).
Medien, zumindest die, die stets vorgeben, eine qualitativ hochwertige Arbeit zu machen, müssen ihren Recherchen nachkommen. Sie müssen ihre Quellen und Stimmen erweitern und austauschen und den Menschen “on the ground” genug Platz geben. Sie müssen diese Perspektiven mit ihrer Reichweite verstärken, um zu zeigen, was auf der Welt passiert und damit Druck auf die politischen Verantwortlichen erzeugen. Sollte Journalismus das nicht eigentlich leisten?
Wahrscheinlich ist das ein Plädoyer gegen die Wand. Wir wissen, dass auch Medienhäuser ökonomischen Interessen folgen und diese Interessen sich nicht unbedingt auf “power to the people” herunterbrechen lassen. “The people” müssen diese Aufgabe deshalb selbst in die Hand nehmen. Es ist etwas, das man beitragen kann und muss in Anbetracht der fatalen Situation: Das mediale Narrativ über Afghanistan richtig stellen, die politisch-ökonomischen Kontexte und Verantwortlichkeiten aufzeigen, den Widerstand der Menschen vor Ort und die internationale Solidarität in den Mittelpunkt stellen.
Foto: Christopher Glanzl