03. August 2020
Kolumne von Michael Bittner
Der Deutsche liebt den Wald. Der Deutsche liebt den deutschen Wald. Zwar hat Eiche, Buche und Linde niemand gefragt, ob sie denn wirklich die deutsche Staatsangehörigkeit haben wollen, aber auf solche Empfindlichkeiten nehmen wir keine Rücksicht. Die alten Germanen saßen nun einmal im dunklen Forst und fraßen mit Vorliebe Eicheln, deswegen ist der Wald auf ewig unser.
In der unsterblichen Liebe zum Wald wurzelt wohl auch unsere Leidenschaft für Wurzeln. Ein wenig seltsam ist die schon: Haben wir doch weder beim Zahnarzt noch im Mathematikunterricht an Wurzeln große Freude. Und doch lieben wir Wurzeln so sehr, dass wir nach ihnen auch dann fragen, wenn wir Menschen begegnen. Kaum gerät uns mal jemand vor die Augen, der nicht so aussieht, als hätte sein Urgroßvater mit Hermann dem Cherusker im Teutoburger Wald die Römer besiegt, erkundigen wir uns nach den Wurzeln des Fremden. Und wer in einem solchen Verhör zugeben muss, sein Stamm sei nicht schon seit Jahrhunderten im deutschen Mutterboden verwurzelt, der macht sich verdächtig. Da werden Stammbaumforschungen fällig, am besten gleich durch die deutsche Polizei. Was hat eine Palme hier bei uns im hohen Norden zu suchen? Nimmt sie nicht unseren jungen Eichenschösslingen das Licht?
Vor einiger Zeit wurde mein Glaube an die Wurzel jedoch durch eine Beobachtung erschüttert. Ich zittere vor Kühnheit, hier erstmals davon zu berichten: Ich stand nackt in meinem Badezimmer und konnte an meinem eigenen Leib hinabblicken – ein Privileg, das nicht jeder deutsche Mann hat –, da ward ich plötzlich gewahr: Ich habe ja gar keine Wurzeln! Stattdessen befindet sich am Ende meiner Beine so eine Art zweites Paar Hände! Und diese seltsamen Auswüchse sind mit dem Erdreich überhaupt nicht verbunden, vielmehr erlauben sie es, sich von einem Ort zu einem anderen zu begeben! Noch mag ich es kaum glauben, aber könnte es sein, dass uns die Natur hier einen Wink geben will? Sind wir Menschen vielleicht gar nicht dazu verpflichtet, immer und unter allen Bedingungen am selben Ort stramm zu stehen? Dürfen wir uns womöglich einfach eine neue Heimat suchen, wenn uns die alte nicht mehr gefällt?
Seit meiner bahnbrechenden Entdeckung wirbeln unzählige Fragen durch meinen Kopf: Liegt es vielleicht am Wurzeldenken der Deutschen, dass uns Beweglichkeit, auch solche geistiger Art, immer zuwider gewesen ist? Hat der deutsche Wurzelsepp deswegen immer jene Völker gehasst, die auf der Welt keine feste Heimat hatten und als Nomaden durch die Lande zogen? Haben wir darum so oft uns selbst ein- oder andere ausgesperrt? Sind wir Deutschen ein so gehorsames Volk, weil wir uns lieber daheim beschneiden lassen als uns aus dem Staub zu machen?
Das würde zumindest erklären, warum wir den Beweglichen immer so böse sind, Auswanderer als Verräter und Einwanderer als Invasoren beschimpfen. Wir neiden ihnen das, was wir nicht wagen. Die Eiche grollt dem Vöglein, das fröhlich dorthin fliegt, wo es will.
Foto: Amac Garbe