22. November 2023
Von Matthias Meisner
Es hilft kein Drumherumreden: Twitter ist kaputt. Der Milliardär Elon Musk hat aus dem Kurznachrichtendienst, einst Ort vorbildlicher Debattenkultur, ein Netzwerk für Pöbelei, Antisemitismus und Verschwörungsideologien gemacht. X hat mit dem alten Twitter so gut wie nichts mehr gemein.
Wie es dort so läuft, ein aktuelles Beispiel: An diesem Donnerstag soll „Staatsgewalt“, ein neues Buch über Rechtsradikale in den Sicherheitsbehörden, in der Berliner Staatsbibliothek vorgestellt werden, der Autor dieses Textes ist als Mitherausgeber beteiligt. Die Ankündigung der Veranstaltung auf X kommentiert ein User – bezeichnenderweise einer mit dem Foto von George Orwell im Avatar – so: „Die Stabi geht jetzt also auch unter die Aktivisten.“ Auch dass Stephan Anpalagan – Autor, Diplomtheologe und Lehrbeauftragter an der NRW-Polizeihochschule – auf der Bühne sitzen soll, missfällt ihm: Bei dem sei „fast jeder Post ein Gesellschaftsspaltung provozierender Krisenmoment“.
Und so wenden viele, die Twitter über Jahre die Treue gehalten haben, sich ab. Fast schon melancholisch schreibt Claudia von Salzen, Investigativ-Reporterin beim Tagesspiegel, nach 16 Jahren Twitter: „Ich bin hier wunderbaren Menschen begegnet, die ich sonst nie getroffen hätte. Ich habe viel zugehört, viel Neues erfahren, viel gelernt.“
Es ist jetzt fast genau 16 Jahre her, dass ich dachte, dieses Twitter, das könnte ich ja mal ausprobieren. Ich bin hier wunderbaren Menschen begegnet, die ich sonst nie getroffen hätte. Ich habe viel zugehört, viel Neues erfahren, viel gelernt. (1/5)
— Claudia von Salzen (@claudi) October 2, 2023
Von Salzen hat auch die Tiefen nicht vergessen, „die ersten größeren Trollattacken“ 2014, „sobald wir Putins Krieg in der Ukraine kritisierten“. Sie sei auch noch geblieben, „als ein gelangweilter Milliardär diese Plattform übernahm, als vermeintlicher Kämpfer für Meinungsfreiheit“. Doch das Twitter, das ihr sehr wichtig gewesen sei, gebe es heute nicht mehr. „Es gibt nur noch X, das von seinem Besitzer genutzt wird, SEINE Meinung zu verbreiten. Der anprangert, wenn Geld dafür gegeben wird, Menschen vor dem Ertrinken zu retten, und der sich über ein Land lustig macht, gegen das ein verbrecherischer Angriffskrieg geführt wird. Eine solche Plattform möchte ich mit meinen Inhalten nicht weiter unterstützen.“
Der Rechtsanwalt Thomas Stadler fragte Anfang Oktober auf X: „Wieso habe ich eigentlich Tweets von ultrarechten Journalisten wie Anna Schneider und Alexander Kissler in meiner TL, obwohl ich ihnen nicht folge und es sich auch nicht um Retweets handelt? Die Entmündigung und Gängelung des Nutzers ist das, was hier am meisten stört.“
In einer Umfrage „Antworten auf den Hass“ in der Zeitschrift „Journalist:in“, dem Verbandsmagazin des DJV, gibt Nicole Diekmann, Korrespondentin im ZDF-Hauptstadtstudio, zu Protokoll, dass sie nun „viel auf Bluesky“ sei, auf X indes in einem Ausmaß wie nie zuvor blocke. „Massivste Hetze“ tobe inzwischen auf der Plattform X quasi ungebremst. „Zudem schränke ich die Kommentarfunktion ein. Das konterkariert zwar die Idee von Social Media – aber ich sehe keine Alternative.“
Die Suche nach Alternativen zu X, vormals Twitter, ist schwer. Facebook? Gilt bei vielen als zu retro. LinkedIn? Hauptsächlich Karriere-Netzwerk. Tiktok? Aus dem chinesischen Propagandaapparat. Über Telegram schrieben die Forscher:innen voh CeMAS im März 2023 in einem Faltblatt, es sei zur „wichtigsten Plattform für Verschwörungsideologien und Rechtsextremismus“ geworden. Das ist eine Rolle, bei der sich Telegram inzwischen im Wettstreit mit Elon Musks X befindet.
„Komm rüber zu Bluesky, Matthias“, schreibt mir ein Kollege aus Frankfurt am Main. „das machen jetzt alle und es ist erstmal so. Nützt nix, du musst jetzt auch mit dem Strom schwimmen.“
Die ersten Erfahrungen: gemischt. Die Stimmung im blauen Himmel ist deutlich besser als auf Ex-Twitter. Bei den Eigenschaften hapert es: keine Hashtags, keine Direktnachrichten, keine Videos. Die Suchfunktion holpert. Und Postings werden nur angemeldeten Nutzer:innen angezeigt, was schlecht für die Reichweite ist.
Und dann die Sache mit der Künstlichen Intelligenz. Als ich im Oktober Gelegenheit hatte, die Sauna in der ehemaligen DDR-Botschaft in Prag zu besichtigen, blendete Bluesky die geposteten Fotos aus – „suggestiver Inhalt“. Auf einem der Bilder war eine Zeichnung mit zwei nackten Menschen zu sehen. Die Journalistin Colette Schmidt von der Zeitung „Der Standard“ machte eine vergleichbare Erfahrung, als sie auf Bluesky die „blutigen Szenen beim Auftritt des Rechtsextremisten Kubitschek“ in Wien zeigen wollte: Bluesky blendete die „schockierenden Bilder“ ebenfalls aus. Auch hier hat mutmaßlich KI die Dokumentation blockiert.
Ein Journalist aus Niedersachsen postete am Wochenende: „Ich möchte niemandem zu nahe treten, aber Bluesky ist ganz sicher kein Ersatz für das, was Twitter mal war.“
Für den Moment stimmt das wohl, aber auch auf längere Sicht? Richtig ist: Mit den sozialen Medien wird es aktuell nicht einfacher, sondern schwieriger. In einem Interview mit „Journalist:in“ zieht Caroline Lindekamp vom Projekt „noFake“ des Recherchezentrums Correctiv eine ernüchternde Zwischenbilanz, mit Kritik an vielen Plattformen. Die Währung von YouTube, Facebook, Instagram, X, Tiktok und anderen sei die Aufmerksamkeit der User, die Geschäftsmodelle setzten auf Werbeeinnahmen, die Analyse von Nutzungsverhalten und die Verwertung von Nutzerdaten – „je mehr von alledem, umso besser“.
Die Schattenseite: „Die Gewinnmaximierung als oberstes Ziel läuft einer demokratischen Debattenkultur zuwider“, sagt Caroline Lindekamp. „Extremen Behauptungen widmen wir zumeist mehr Aufmerksamkeit als unaufgeregten Analysen. Daher pushen Plattform-Algorithmen eher Schwarz-Weiß-Denken und Konflikte als ausgewogene Diskussion. Wenn zusätzlich traditionelle Medien Social-Media-Trends hinterherrennen oder Social Bots Hassrede und Desinformationskampagnen amplifizieren, verschärft sich der Polarisierungseffekt.“
Anders ausgedrückt: Die sozialen Netzwerke werden unsozial.