Die Taliban haben nach uns gesucht

Die Taliban haben nach uns gesucht

02. Dezember 2021

Die Todesangst kam meistens mit dem Motorrad. „Damit waren die Taliban immer unterwegs“, sagt Mohammad Rasol und zeigt auf ein verrostetes rotes Bike. Rasol steht am Straßenrand in Rawalpindi, einer zwei-Millionen-Stadt in Pakistan. Seit einer Woche ist er jetzt hier. „Sie haben auf den Straßen patrouilliert. Vermummt, mit einem Gewehr auf der Schulter.“ Auf dem roten Bike sitzt kein Terrorist, sondern eine vierköpfige pakistanische Familie. Es riecht nach Benzin, Rikscha-Abgase brennen in den Augen. Neben Rasol steht sein Freund Deniz Ahmadi. „So viel war in Kabul lange nicht mehr los“, sagt er. Dort bleiben die Menschen die meiste Zeit daheim, seit die Taliban in Afghanistan an der Macht sind. 

Drei Monate haben sich Mohammad Rasol, 35, und Deniz Ahmadi, 29 (Namen geändert), vor den Taliban versteckt. Die beiden gehören zu den zehn afghanischen Fluglotsen, die zehn Jahre lang für die Bundeswehr im Tower von Masar-i-Scharif gearbeitet haben. Bis zum Sommer, als die deutschen Truppen Afghanistan verließen. Rasol und Ahmadi haben den Flughafen am Laufen gehalten, als die Bundeswehr abzog. Sie selbst aber wurden zurückgelassen. 

Marktschreier, gefälschte Rolex-Uhren, frische Granatäpfel. Der Basar ist die Pulsader Rawalpindis. Rasol und Ahmadi fühlen sie sich hier nach langer Zeit wieder sicher. An den Trubel haben sie sich aber noch nicht gewöhnt. Generell an fremde Menschen. Rasol sieht ein sandfarbenes Kleid, bodenlang, mit goldenen Perlen geschmückt. Er greift nach dem seidenen Stoff. „Wenn meine Frau nach Rawalpindi kommt, gehen wir zusammen auf den Bazar“, sagt er. „Dann schenke ich ihr das.“ Seine Frau Amira ist noch in Masar-i-Scharif. Er musste sie zurücklassen. „Sie wollte mich erst nicht gehen lassen.“ Dann hätten die Taliban zwei Männer erschossen, direkt vor dem Fenster ihres Verstecks. „In dem Moment sagte sie zu mir: Verschwinde. So schnell wie möglich.“ 

Eigentlich wollten sie alle gemeinsam fliehen. Rasol, Ahmadi, ihre Frauen und Kinder. Beide haben zwei Söhne, sie sind im gleichen Alter, zwei und vier Jahre alt. Auch die anderen acht Kollegen aus dem Tower und ihre Familien sollten mitkommen. Für alle war eigentlich klar, dass die Bundeswehr sie mit nach Deutschland nehmen wird, sollte der Einsatz enden. Dann kam die Ernüchterung. Das Verteidigungsministerium erkannte sie nicht als Ortskräfte der Bundeswehr an, weil sie nur einen Werkvertrag und keinen richtigen Arbeitsvertrag hatten. Was folgte, war ein monatelanges Tauziehen. Sogar eine Klage reichten die Fluglotsen mithilfe von Mission Lifeline ein. Am 10. November dann die erlösende Nachricht: Sie werden offiziell als Ortskräfte anerkannt. Aber nur Rasol und Ahmadi konnten das Land bisher verlassen. Sie sind die einzigen aus ihrer Gruppe, die noch rechtzeitig Pakistan-Visa ergattern konnten. Denn plötzlich bremsten die pakistanischen Behörden die Vergabe an Afghanen. 

Die Zeit drängt. Denn Rasol und Ahmadi dürfen sich höchstens 60 Tage in Pakistan aufhalten. Wenn ihre Familien bis dahin nicht da sind, müssen sie ohne sie nach Deutschland fliegen – ansonsten würden sie abgeschoben, zurück nach Afghanistan. Wenn sie nicht alle zusammen in Deutschland einreisen, droht ihnen ein Verfahren zum Familiennachzug. Dann kann es Jahre dauern, bis die Familien nachkommen. 

Der Smog über Rawalpindi schimmert orange. Rasol bestellt in einem Café für sich und Ahmadi ein paar pakistanische Gerichte. „Es tut gut, abends einfach draußen zu sitzen“, sagt er. Das hat er schon lange nicht mehr gemacht. „Aber ich vermisse meine Familie. Und unsere Kollegen.“ Manche überlegen, über den Landweg am Khyber-Pass im Osten Afghanistans nach Pakistan zu fliehen, sollten sie irgendwie an Visa kommen. Der Weg ist nicht ungefährlich. Tausende Menschen drängen sich jeden Tag zur Grenze, warten oft nächtelang in der Kälte auf Durchlass. Sie würden das auf sich nehmen, um frei zu sein. 

Fotos: Achim Schmidt
Text: Kathrin Braun

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