19. Dezember 2021
Kolumne von Robert Fietzke
Es gibt in Deutschland ein ungeschriebenes Gesetz: Gründe eine rechte, rassistische oder wie auch immer geartete reaktionäre Bewegung und dir ist die volle Aufmerksamkeit sicher. Medienschaffende berichten blumig von Fackelmärschen, als wären es Sankt-Martins-Umzüge von Kindern. Politiker*innen springen sogleich mit einem offenen Ohr herbei und wollen deine „Ängste und Sorgen“ kennenlernen, wollen einfach mal zuhören, Empathie zeigen, da sein. Selbst klarster Rassismus, triefendster Antisemitismus oder unverhohlene Gewaltaufrufe werden mit einem schulterzuckendem „Klar ist das schlimm, aber das sind doch nur Einzelfälle“ quittiert, bis sich eine Bewegung derart ausgewachsen hat, dass selbst der größte Naivling nicht mehr ignorieren kann, was hier in Wirklichkeit entstanden ist.
Der „besorgte Bürger“ ist spätestens mit PEGIDA zum geflügelten Wort geworden. Es mag nicht überraschen, dass die Schnittmenge zwischen denen, die sich damals den vielen GIDA-Aufmärschen anschlossen, und denen, die heute bei den Corona-„Spaziergängen“ mitlaufen, enorm groß ist. Nun ist die Bewegung in ein neues Stadium übergegangen. In vielen Städten übernehmen Neonazis und rechte Hooligans die Führung, tasten sich Woche für Woche vor, was ihnen der Staat noch alles durchgehen lässt. Rechtsradikale Telegram-Kanäle wachsen so schnell wie die Omikron-Variante, ballern ohne Ende Verschwörungsmythen und Fake News raus, und immer offener und deutlicher werden Gewalt- und Umsturzfantasien propagiert.
Und dennoch sind Verantwortungsträger*innen wieder „überrumpelt“, hatten das Phänomen halt einfach „nicht auf dem Schirm“, wie der nordrhein-westfälische Innenminister Reul, der offenbar nicht weiß, dass es sein Beruf ist, sowas tagtäglich auf dem Schirm zu haben.
Und dennoch wollen Politiker*innen wieder „zuhören“, wie zum Beispiel Andreas Silbersack, seines Zeichens FDP-Fraktionschef im Landtag von Sachsen-Anhalt: „Wenn 1000 Menschen demonstrieren, bewegt sie etwas. Daher ist es wichtig, dass wir zuhören. Was wir brauchen ist ein Spagat.“
Als wären all die gewalttätigen Übergriffe von Maskenverweigerern in den Zügen, Straßenbahnen und Supermärkten dieses Landes nie passiert, als hätte es all die konzertierten Angriffe auf mobile Impfteams nicht gegeben, als wäre das Mord-Komplott gegen den sächsischen Ministerpräsidenten nur ein Joke, als wäre selbst der Mord am 20-jährigen Studenten Alex W. in Idar-Oberstein oder die Ermordung seiner Frau und seiner drei Töchter durch einen 40-jährigen „Querdenker“ in Senzig bei Königs-Wusterhausen nie passiert.
Wohingegen nur äußerste Stille herrscht und kaum jemand mit der Inbrunst an Verständnis und Gewogenheit zuhören möchte, sind die tagtäglich zu hörenden und zu lesenden Stimmen der Vernünftigen. Der Solidarischen. Der Demokratischen.
Die Sorgen von Eltern über die laufende Durchseuchung an den Schulen bei gleichzeitig zögerlichen Impf-Empfehlungen durch die STIKO. Die Sorgen vor der Omikron-Variante. Die Ängste von Kindern, sich selbst zu infizieren, aber auch die Eltern oder Großeltern anzustecken. Die Sorgen von Kassierer*innen, von Maskenverweigerern angegriffen zu werden, wenn sie diese an die Maskenpflicht erinnern. Die Furcht davor, dass diese Pandemie niemals endet, weil Staaten wie Deutschland nicht dazu bereit sind, sich für freie Impflizenzen stark zu machen, was der einzige Weg zu einer erfolgreichen globalen Impfkampagne wäre. Die Angst von Ärzt*innen und Pflegekräften, die nächste Welle physisch und mental nicht mehr durchzustehen. Die Angst von Sozialarbeiter*innen, Erzieher*innen und Lehrer*innen, immer größeren Härten ausgesetzt zu sein, denn Personal wächst ja nicht auf Bäumen. Die Sorgen von Menschen, bei denen das Geld ohnehin schon gerade so zum Leben reicht, vor den ökonomischen Folgen der Dauer-Pandemie. Die Betroffenheit darüber, vielleicht nie wieder den Beruf ausüben zu können, den man doch schätzen gelernt hat, einfach, weil es zu riskant ist. Die tagtägliche Angst von migrantisierten Menschen vor rechter, rassistischer Gewalt, die mit jeder neuen rechten Bewegung weiter entfacht wird. Die Furcht davor, von der Omnipräsenz von Krisen überwältigt zu werden. Klimaangst. Zukunftsangst. Pandemieangst.
All diese Menschen, die ebenfalls wollen, dass diese Pandemie endlich endet, die wollen, dass ein Stück weit „Normalität“ in diesen entrückten Zeiten Einzug erhält, wenn auch nur als temporäre Phase oder angenehme Illusion, all diese Menschen, die sich gleichzeitig solidarisch und selbstbestimmt an die Regeln halten, weil sie selbst etwas dazu beitragen wollen, dass es endet, all diese Menschen werden in keiner Weise abgeholt. Obwohl sie diese Gesellschaft am Laufen halten, werden sie mit Ignoranz und Desinteresse gestraft. Vielleicht sollte diese stille Mehrheit mal geschlossen auf die Straße gehen. Allen Grund dazu hätte sie.
Foto: Robert Fietzke