„Die Menschen brauchen keine warmen Worte – sie müssen da raus!”

„Die Menschen brauchen keine warmen Worte – sie müssen da raus!”

10. Februar 2023

Im Gespräch mit Sandra über das Bundesaufnahmeprogramm für besonders gefährdete Afghan:innen

Am 17. Oktober 2021 startete nach langem Warten endlich das Bundesaufnahmeprogramm (BAP) für besonders gefährdete Afghan:innen. Dieses soll monatlich 1000 Hilfesuchenden eine Aufnahme in Deutschland garantieren. Das Programm erntete bereits Kritik, weil es vorne und hinten nicht ausreicht, um alle gefährdeten Afghan:innen zu berücksichtigen und die Antragstellung zudem sehr aufwendig ist. Hinzu kommt, dass seitdem noch keine einzige Aufnahmezusage erteilt wurde ‒ obwohl es an Anträgen nicht mangelt. Als Mitarbeiterin von Mission Lifeline bearbeitet und betreut Sandra die humanitären Fälle aus Afghanistan, die über das BAP laufen sollen. Im Interview spricht sie über ihre Arbeit, die dramatische Situation der Menschen in Afghanistan und über ihre Wut darüber, dass Deutschland weiterhin wegschaut.


Sandra, du bearbeitest für Mission Lifeline die humanitären Fälle aus Afghanistan. Wie viele Anfragen hast du denn seit dem Start des Bundesaufnahmeprogramms bekommen?

Genau. Wir haben schon zuvor humanitäre Fälle gesammelt, aber seit drei Monaten läuft es nun über das Bundesaufnahmeprogramm. Das führte sofort zu einer E-Mail-Flut. Allein vom 17. Oktober bis Dezember waren es über 1000 E-Mails, die ich beantworten musste. Wir kamen irgendwann nicht mehr hinterher, weswegen wir das Postfach zeitweise sogar schließen mussten. Es war eine Unmenge an Anfragen und es kommen noch immer welche hinzu. Allerdings wird es langsam weniger. Ich denke, die Menschen, die sich melden wollten und konnten, haben das mittlerweile größtenteils getan. Jetzt sind wir dabei die ganzen Fälle ins BAP einzutragen, während wir natürlich weiter sammeln. 

Wie kann man sich deinen Arbeitsalltag vorstellen? Die Anfragen der gefährdeten Afghan:innen kommen per Mail bei dir an ‒ und dann?

Die Anfragen der Hilfesuchenden kommen bei uns rein und in der ersten Mail beschreiben sie im Prinzip, wer und wo sie sind, und schildern ihre Situation, die natürlich immer dramatischer wird. Kabul ist am 15. August 2021 gefallen ‒ das ist jetzt eineinhalb Jahre her ‒ und die Menschen sind seitdem auf der Flucht. Anschließend fordern wir Unterlagen von ihnen an und stellen Fragen, von denen wir wissen, dass sie vom BAP verlangt werden. Die Fragen sind meiner Meinung nach teilweise unterirdisch – sie schreien regelrecht danach „Bleibt bitte weg!“. Es wird abgefragt, wie genau die Menschen bedroht werden, wann das letzte Mal eine Drohung ausgesprochen wurde, wie oft sie gefoltert werden und solche Sachen. Diese Fragen muss ich dann auch den Betroffenen stellen. Das heißt, ich beginne meine Antwort immer mit einer Einleitung, in der ich mich dafür entschuldige, dass ich solche Dinge fragen muss. Die bearbeiteten Fälle werden später ans BAP weitergeleitet.

Was sind das für humanitäre Fälle, mit denen du konfrontiert wirst ‒ kannst du ein Beispiel nennen?

Ich habe zum Beispiel den Fall von einer Frau, die sich seit 20 Jahren aktiv für Frauenrechte in Afghanistan einsetzt. Die Taliban forderten sie auf damit aufzuhören, was sie jedoch nicht tat, weil ihre Arbeit wahnsinnig wichtig ist. Ihre Schwester, die sich ebenfalls für Frauenrechte einsetzte, wurde bereits getötet. Letztes Jahr im Oktober wurde zudem ihr Sohn entführt und er ist bis heute nicht wieder aufgetaucht. Sie hat keine Ahnung, was mit ihm passiert ist. Diese Frau ist hochgradig gefährdet und wir haben bereits alle Informationen und Unterlagen für das Bundesaufnahmeprogramm eingereicht. Ich bin mit ihr zusätzlich über WhatsApp in Kontakt und etwa einmal pro Woche fragt sie nach, ob es schon etwas Neues gibt. Sie hat große Angst und wurde vor Kurzem erst wieder bedroht. Und ich muss ihr immer wieder sagen, dass wir noch nichts haben. Das ist einer von vielen Fällen, von denen wir noch nicht wissen, wie er entschieden wird.

Du bearbeitest also nicht nur die Fälle, sondern im Grunde betreust und begleitest du die Menschen auch.

Ja man muss sie begleiten ‒ mit all ihren Fragen, Ängsten und Sorgen. Denn diese Menschen stehen jeden Morgen in der Hoffnung auf, dass sie endlich Hilfe bekommen.

Wenn ihr alle Informationen und Unterlagen gesammelt habt, leitet ihr die Anträge an die Bundesregierung weiter. Und was passiert danach?

Ja, nachdem das Formular ausgefüllt ist, senden wir es an die entsprechende Stelle. Das geht über das Auswärtige Amt. Aber was dann passiert ‒ keine Ahnung. Wie gesagt, das BAP läuft seit Mitte Oktober und damals hieß es, es werden 1000 Menschen pro Monat aufgenommen – doch passiert ist seitdem nichts. Die Anträge werden gestellt, aber bisher hat noch niemand eine Zusage oder überhaupt irgendeine Antwort bekommen. Und das ist eine Sache, die kann eigentlich nicht sein. Ich habe auch ehrlich gesagt keine Ahnung, was passieren wird, wenn die Menschen tatsächlich eine Aufnahmezusage bekommen. Denn von den wenigen ehemaligen Ortskräften des Police Cooperation Projects (PCP) der GIZ, die Aufnahmezusagen bekommen, wissen wir, dass sie sich im Anschluss selbst darum kümmern müssen, wie sie aus dem Land und an ein Visum kommen.

Das klingt nach reichlich Intransparenz. Wie lautet denn die Rechtfertigung der Bundesregierung?

Es gibt keine besondere Rechtfertigung. Afghanistan ist ja quasi nicht mehr wirklich vorhanden in den Köpfen der Menschen und eine regelmäßige Berichterstattung findet nicht statt. Trotz der dramatischen Lage im Land. Frauen in Afghanistan existieren für die Öffentlichkeit nicht mehr: sie dürfen nicht zur Schule, sie dürfen nicht zu Universität, sie dürfen mittlerweile nicht mehr ohne den Mann auf die Straße. Sie verschwinden leise, die Taliban machen die Frauen unsichtbar. Und es finden in Afghanistan mittlerweile auch öffentliche Steinigungen statt, ohne dass großartig davon berichtet wird. Niemand schaut mehr richtig hin.

Habt ihr einen Einfluss darauf, wie die von euch eingereichten humanitären Fälle am Ende bewertet werden?

Nein. Der einzige Einfluss, den wir ausüben können, ist die Art, wie wir den Fall darstellen. Im BAP-Formular gibt es Freitext-Passagen, wodurch wir die Möglichkeit haben, die Lage so dramatisch darzustellen, wie sie eben auch tatsächlich ist. Dort fügen wir unter anderem Zitate von den Menschen ein und schildern ganz genau ihre Situation.

Ihr tut also seit Monaten, was ihr könnt. Die Anträge der hilfesuchenden Afghan:innen werden bearbeitet und eingereicht. Was fehlt ist der nächste Schritt durch die Bundesregierung, nämlich die Aufnahmezusagen zu erteilen. Oder?

Genau. Die Aufnahmezusagen sind der nächste Schritt. Außerdem wäre es wichtig, dass wenn eine Zusage erteilt wird, die Menschen tatsächlich auch die nötige Unterstützung bekommen, nach Deutschland einzureisen. Es reicht nicht, zu sagen „hier habt ihr eure Aufnahmezusage und ansonsten seht halt zu“. Es ist wahnsinnig wichtig, die gefährdeten Menschen auch wirklich rauszuholen. Doch stattdessen reden Svenja Schulze und Annalena Baerbock überall nur von feministischer Außenpolitik. Das sind zwei Worte, die absolut nichts sagen, wenn nicht dementsprechend gehandelt wird. Was bringt es denn bitte den betroffenen Menschen, wenn hier irgendwo jemand steht und sagt „Wir stehen an eurer Seite“? Das ist auch so ein Satz, der mich wütend macht.

Ja, denn das klingt alles schön und gut, aber davon werden keine Leben gerettet.

Richtig. Svenja Schulze stellt sich morgens hin und erzählt irgendwas über feministische Außenpolitik und zur gleichen Zeit schickt ihr Ministerium Absagen an hochgefährdete Frauen raus. Das Problem ist, dass es für Deutschland einfach nicht attraktiv ist, Afghan:innen aufzunehmen. Deutschland nimmt lieber ‒ und das soll jetzt nicht heißen, dass das nicht auch wichtig ist – Ukrainer:innen auf. Das ist dem Gemeindeutschen einfacher zu vermitteln. Denn in der Ukraine herrscht Krieg und seit Februar 2021 ist dieses Thema immer und überall auf der Welt präsent.
Mir tut das manchmal so weh, zu sehen, was auf der einen Seite alles getan wird und auf der anderen aber nicht. Im Grunde lässt Deutschland die Menschen verrecken. Das Wort ist nicht schön und vielleicht sollte man das auch auf eine andere Art und Weise kommunizieren. Aber letztendlich, ist es genau das ‒ und es ist unfassbar tragisch. Denn das sind Menschen wie du und ich. Nur hatten sie leider bei der großen Lotterie das wahnsinnige Pech nicht in Deutschland oder Europa geboren zu sein, sondern in Afghanistan. Und dort ist das Leben derzeit der blanke Horror.

Was müsste sich deiner Meinung nach ändern?

Es müssen endlich Aufnahmezusagen an die humanitären Fälle erteilt werden. Die Frage ist auch: wenn sie dann hoffentlich irgendwann eine Zusage bekommen ‒ sind sie dann überhaupt noch am Leben? Das gleiche gilt für die Ortskräfte, die für Deutschland gearbeitet haben. Im Prinzip ist es so, dass wir den Scherbenhaufen zusammenkehren müssen, den Deutschland und andere Staaten mit dem schnellen Abzug aus Afghanistan hinterlassen haben. Die Menschen brauchen keine warmen Worte oder irgendwelche leeren Phrasen, wie „Wir stehen an eurer Seite.“. Die Menschen müssen da raus.

Was möchtest du den Leser:innen zum Abschluss noch mit auf den Weg geben?

Dass wir alle die Augen aufmachen müssen. Den Blickwinkel vergrößern und wieder auf Afghanistan blicken. Hinschauen ‒ das ist ganz wichtig. Denn auch in Afghanistan gehen die Frauen auf die Straße und kämpfen für ihre Rechte. Aber sie werden weniger wahrgenommen als in anderen Ländern. Ich würde mir daher auch wünschen, dass die Situation in Afghanistan in den Medien wieder stärker präsent wird. Denn am Ende können Menschen ja nur zum Hinschauen bewegt werden, wenn ihnen gesagt wird, dass sie hinschauen müssen.

Das Gespräch führte Kathi Happel

Foto: Mission Lifeline

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