21. Juni 2023
Von Matthias Meisner
Von den Insass:innen des Ghettos Theresienstadt ließ das wohl kaum jemand kalt: 80 Jahre ist es demnächst, am 23. September, her, dass die Kinderoper Brundibár zum ersten Mal dort aufgeführt wurde, gespielt von Kindern für Kinder. Beispielsweise die Holocaust-Überlebende Evelina Merová erinnert sich in ihrer Autobiografie „Lebenslauf auf einer Seite“ an den „schönen Moment“, an dem sie als „glückliche, dankbare Zuschauerin“ im Publikum auf dem Dachboden der Magdeburger Kaserne sitzt, bei einer der insgesamt mehr als 50 Vorstellungen. Auf der Bühne waren einige ihrer Freundinnen: Ela Stein spielte die Katze, Maria Mühlstein, das jüngste Mädchen im Zimmer 28 L 410 des Ghettos, einem der Mädchenzimmer, spielte manchmal den Spatz und ein paar Mal auch die Aninka. Andere ihrer Freundinnen, darunter Handa Pollak, sangen im Chor.
„Ganz zauberhaft“ hätten dort alle gespielt, schreibt Merová in ihrem 2016 erschienenen Buch. „Der Inhalt, ein Märchen, war einfach, ergab aber gerade für uns Kinder einen tieferen Sinn“, erzählt sie über die tschechische Oper von Hans Krása und Adolf Hoffmeister, die 1938, entstanden ist. Es war jenes Schicksalsjahr, als es mit der 1918 begründeten ersten tschechoslowakischen Republik, nach 20 Jahren schon wieder zu Ende ging: Am 1. Oktober annektierte Hitler das Sudetenland, und ein halbes Jahr später, am 15. März 1939 marschierte er mit seiner Wehrmacht in Prag ein. Das rassistische Terror-Regime wurde auf das sogenannte Protektorat Böhmen und Mähren ausgedehnt. Die Erinnerung an die Kinderoper Brundibár aber, so hält es Merová fest, blieb in dieser düsteren Zeit fünf Jahre später „für uns ehemalige Theresenstädter Kinder, die den Holocaust überlebten, bis heute ein sonniger, heller Schein im grauen Ghettoleben“.
Von den vielen Jüd:innen, die aus Theresienstadt nach Auschwitz deportiert wurden, haben nur die wenigsten überlebt. Und von den etwa sechzig Insassinnen des Theresienstädter Mädchenzimmers Raum 28 sind überhaupt nur noch zwei am Leben: die 91-jährige Handa Pollak, die 1949 aus der Tschechoslowakei in ein Kibbuz nach Israel emigrierte, und die 92-jährige Evelina Merová, die nach ihrer Befreiung durch die Rote Armee nach Leningrad adoptiert wurde und die erst 1995 in ihre geliebte Heimatstadt Prag zurückkehren konnte, wo sie in einer Ein-Raum-Wohnung in der Neustadt lebt. Pollak und Merová tauschen sich regelmäßig per Skype aus – zwei Zeitzeuginnen an der Schwelle zu einer Zeit, an der keine Holocaust-Überlebenden mehr am Leben sind.
Die Pflege dieser Erinnerungen ist schwer zu denken ohne eine in Berlin-Kreuzberg lebende Schwäbin: Hannelore Brenner, die im April für ihre Arbeit mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde. Sie war 1992 aufmerksam geworden, dass der damalige Bielefelder Dramaturg Frank Harders-Wuthenow Brundibár auf die Bühne brachte. „Du wirst hellhörig, willst mehr wissen über diese Oper und vor allem über diese Oper und vor allem über die Menschen, die in Theresienstadt auf der Bühne gestanden haben“, sagte Ute Lemm, die Generalintendantin der Schleswig-Holsteinischen Landestheater, in ihrer Laudatio zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes. „Mit all deiner Kraft, mit Leidenschaft, mit Hingabe entwickelst du ein unglaublich vielfältiges Geflecht, in dessen Mittelpunkt die Frauen und ihre Erfahrungen stehen.“
Brenner unterstützt seit Jahrzehnten die Vernetzung der Überlebenden des Mädchenzimmers Raum 28 im Ghetto Theresienstadt, die Erinnerungsarbeit mit vielen Facetten, organisierte eine Wanderausstellung „Die Mädchen von Zimmer 28“, schrieb Bücher zum Thema und mehr. Sie gründete den Verein Room 28. Sie hat einen gewichtigen Anteil, dass die fast in Vergessenheit geratene Kinderoper Brundibár seit den 1990er Jahren in Tschechien und Deutschland eine Renaissance erlebte, inzwischen unzählige Male auf großen und kleinen Bühnen aufgeführt wurde – in Europa, in den USA, in Israel, in Russland, in Südamerika und Südafrika.
Als Brundibár von September 1943 an im Konzentrationslager Theresienstadt gespielt wurde, habe die Kinderoper „den jungen Ghettoinsassen Hoffnung auf den Sieg über Hitler“ gegeben, sagt Hannelore Brenner, „sie wurde zum Symbol des Guten über das Böse“. Die Herbsttransporte des Jahres 1944, bei denen mehr als 18.000 Menschen, darunter das gesamte Brundibár-Ensemble, aus Theresienstadt nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurden, habe die beliebteste Theaterproduktion im Ghetto zum Verstummen gebracht: „Die Erinnerung an das dunkelste Kapitel des 20. Jahrhunderts und an die im Holocaust ermordeten Kinder hat sich mit der Oper verwoben, lebt in ihr weiter und schwingt bei jeder Aufführung mit.“
Wie genau der ersten Aufführung von Brundibár vor 80 Jahren im Konzentrationslager Theresienstadt gedacht wird, ist noch nicht in allen Details klar. Sicher ist, dass es im September im Musikverlag Boosey & Hawkes ein Kinderbuch in deutscher Ausgabe geben wird. Und wenn alles klappt, soll parallel auch eine ukrainische Ausgabe erscheinen – als Zeichen der Solidarität im dem kriegsgeschüttelten ukrainischen Volk. Dazu geplant ist eine Buchpremiere mit Lesung, Musik und Gesang mit deutschen, ukrainischen und anderen Mitwirkenden, mit im Brundibár-Team auch der in Riga lebende Regisseur Mstislav Pentkowsky, der die Kinderoper vor dem Krieg mehrfach an russischen Theatern und in Estland inszenierte. Wieder soll Brundibár eine klare Erklärung gegen den Krieg sein, nun gegen Moskaus Angriffskrieg gegen die Ukraine.