26. Juni 2023
Kolumne von Özge Inan
Als Linker bei den Grünen hatte man es wohl selten so schwer wie jetzt. Nachdem die Ampelkoalition in den europäischen Asylverhandlungen einem Kompromiss wie aus dem CSU-Bilderbuch zustimmte, hagelt es Kritik. Immerhin sieht die Reform sogenannte Transitzonen mit beschleunigter Asylprüfung, in einigen Fällen verbunden mit Inhaftierung. Fünf Jahre, bevor die Europäische Kommission solche Zonen vorschlug, hatte schon einmal jemand diese Idee: der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). Die Kritik von SPD und Grünen war so laut, dass er schließlich gezwungen war, einzulenken. „Es ist weder eine Haft noch ist da von Stacheldraht oder Ähnlichem die Rede“ erklärte Seehofer. Nach langem Streit überzeugte er immerhin die CDU – unter Vorbehalt. Von der Idee dürfe man nicht zu viel erwarten, sagte der damalige CDU-Vizechef Armin Laschet gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Gleichzeitig widersprach er Forderungen nach einer Obergrenze mit dem bemerkenswerten Satz: „Man wird die Kapazitäten erweitern müssen.“
In der Migrationsdebatte gab es inzwischen eine kleine Zeitenwende. Dass heute ein Spitzenpolitiker der CDU angesichts steigender Asylbewerberzahlen ganz selbstverständlich eine Erweiterung der Kapazitäten fordert – schwer denkbar. Und auch die Grünen von heute sind nicht mehr die humanistische Opposition von damals. Nein, inzwischen regiert auch in der Ökopartei König Sachzwang. Dementsprechend heftig fällt die Antwort aus. Man kennt das Lied: ihr habt eure Ideale verraten, ihr seid eingeknickt, ihr seid Heuchler. Aber auch emotionalere Töne werden angeschlagen. Offenbar hat eine beachtliche Anzahl anständiger, fortschrittlicher Menschen ehrlich und aufrichtig an diese Partei geglaubt und wurden enttäuscht.
Um enttäuscht zu werden, muss man sich zunächst einmal getäuscht haben. Insofern bedeutet eine Enttäuschung auch immer einen Erkenntnisgewinn. Wer sich gerade über die Grünen ärgert, sollte das vor Augen behalten – und sich fragen, welche Schlüsse aus der neuen Erkenntnis zu ziehen sind.
Foto: Timo Schlüter