25. September 2020

Die europäische Lösung: Abschottung statt Flüchtlingsschutz. Abschreckung statt Menschenrechte.

Die europäische Flüchtlingspolitik braucht eine Generalüberholung. Das ist ein Allgemeinplatz, den niemand bestreitet.

Die Gründe sind derweil vielfältig: Schutzsuchende an der Außengrenze werden von Grenzschützern beschossen, auf dem offenen Meer ausgesetzt, mit Gewalt an der Einreise gehindert; Tausende Menschen sterben im Mittelmeer, warten vergeblich auf eine staatliche Seenotrettung, und finden keinen sicheren Hafen. Zehntausende Menschen leiden seit Jahren in den griechischen Hotspots unter Zuständen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als menschenrechtswidrig bezeichnet, und haben keine Aussicht, von einem anderen europäischen Staat aufgenommen werden. Griechenland kann unwidersprochen das Asylrecht aussetzen. Und Menschen, die als Flüchtlinge und damit als schutzbedürftig anerkannt sind, werden in zahlreichen europäischen Staaten von sozialer Sicherung ausgeschlossen und müssen auf der Straße leben. Kurzum: Im Umgang mit Geflüchteten klafft eine gravierende und strukturelle Lücke bei der Wahrung der Menschenrechte.

Dem Migrationspakt, den die EU-Kommission in dieser Woche vorgestellt hat, liegt eine gänzlich andere Analyse zugrunde: Nicht die Verletzungen von Menschenrechten sind das Problem, sondern die Menschen selbst. Statt evidente Schutzlücken zu schließen und die Lebensbedingungen von Asylsuchenden zu verbessern, sollen Asylverfahren verkürzt, Abschiebungen forciert und Lager und Inhaftierung zum Dauerzustand gemacht werden. Statt die Rechte und Bedürfnisse von Geflüchteten zu verbessern, sollen sogenannte „Abschiebepatenschaften“ installiert werden.

Asylverfahren an der Grenze

Der Kernpunkt des Migrationspakts der Kommission ist die Neugestaltung von Asylverfahren an den Außengrenzen. Dabei werden Asylsuchende in zwei Klassen aufgeteilt. Diejenigen Personen, die aus einem Staat mit einer Schutzquote von weniger als 20 % stammen, und solche, die vorgeblich falsche Informationen oder Dokumente vorlegen oder zurückhalten, unterliegen einem Grenzverfahren. Das Grenzverfahren beinhaltet eine beschleunigte inhaltliche Prüfung und soll maximal zwölf Wochen dauern. Für den Fall einer Ablehnung, schließt sich ein Rückführungsgrenzverfahren mit dem Ziel einer schnellen Abschiebung an.

Alle anderen Antragsteller*innen durchlaufen das übliche Asylverfahren. Im Grundsatz wird hierbei am Dublin-System festgehalten: Zuständig für die Durchführung der Asylverfahren ist  weiterhin in der Regel der Ersteinreisestaat, also die Staaten an den Außengrenzen. Eine Verteilung von Asylsuchenden wie auch von anerkannten Schutzberechtigten in andere Mitgliedsstaaten ist nur dann vorgesehen, wenn eine höhere Zahl von Schutzsuchenden in einem Mitgliedsstaat ankommt. Die anderen Staaten können diese Aufnahme umgehen, indem sie sich am Grenzschutz oder durch jene „Abschiebepatenschaften“ beteiligen.

Um Abschiebungen zu forcieren, soll zudem die Europäische Grenzschutzagentur Frontex verstärkt eingebunden und ein europäischer Abschiebekoordinator installiert werden. Zugleich sollen vermehrt Herkunfts- und Transitstaaten mittels Sanktionen zur Rückübernahme von Geflüchteten angehalten werden. Eine staatliche Seenotrettung ist hingegen nicht vorgesehen.

Entrechtung und Verelendung

Der Migrationspakt der Kommission will die Entrechtung von Schutzsuchenden verfestigen, und zwar in mindestens vier Punkten:

Erstens werden Geflüchtete durch die Installierung von Grenzverfahren praktisch rechtlos gestellt: Wenn eine Person einem Grenzverfahren zugeordnet wird, weil sie aus einem Land mit einer niedrigen Schutzquote kommt und vorgeblich über die Identität getäuscht hat, kann sie rechtlich gegen diese Zuordnung nicht vorgehen – wenngleich die Klassifizierung anhand von Schutzquoten äußerst willkürlich ist und das Recht auf ein individuell ausführliches Asylverfahren massiv beschneidet; und wenngleich Geflüchtete ohne Dokumente regelmäßig dem Vorwurf der Täuschung ausgesetzt werden. Endet das Grenzverfahren schließlich mit einer negativen Entscheidung, hat eine Klage keine aufschiebende Wirkung, eine Abschiebung ist also nur mit erhöhtem Begründungsauwand möglich. Da es tatsächlich in Grenzverfahren keinen effektiven Zugang zu rechtlicher Beratung und Rechtsanwält*innen geben wird, dürfte es praktisch unmöglich sein, eine Abschiebung zu verhindern.

Zweitens implizieren die Grenzverfahren die Einrichtung von geschlossenen Lagern: Da Antragsteller*innen während eines Grenzverfahren rechtlich als nicht eingereist gelten, müssen Personen in Transitzonen festgehalten werden, aus dem es nur einen Ausweg gibt: Den Weg zurück in das Herkunfts- oder Transitland.

Drittens präsentiert die Kommission erwartungsgemäß keine konstruktiven Vorschläge, wie in den Haftlagern menschenwürdige Zustände gewährleistet werden sollen. Damit wird das Lager als Ort der Abschreckung perpetuiert, und die menschenrechtswidrigen Zustände rechtlich untermauert. Zugleich entwirft der Migrationspakt den Idealtypus eines Verfahrens, an dessen Ende eine schnelle Abschiebung steht. Die große Zahl derjenigen, die nicht abgeschoben werden, weil die Rücknahme scheitert, wird dauerhaft und möglicherweise über Jahre in den Haftlagern bleiben müssen.

Viertens wird eine Umsetzung des Migrationspaktes die Verelendung auch von anerkannt Schutzberechtigten nochmal verstärken. Die Kommission äußert sich weder zu den elenden Lebensbedingungen von anerkannten Flüchtlingen etwa in Griechenland oder Italien, noch soll es eine effektive und verpflichtende Umverteilung geben. Stattdessen sollen Geflüchtete von der Weiterwanderung abgehalten werden, indem sie in anderen Staaten von Sozialleistungen ausgeschlossen werden.

Botschaft nach Lesbos: „You are not welcome!“

Klar ist: Bis zu einer Umsetzung in Gesetze und Verordnungen ist es noch ein weiter Weg – insbesondere die Aussengrenzenstaaten können nur durch ausreichende finanzielle und institutionelle Unterstützung überzeugt werden. Die Stoßrichtung ist aber bereits klar: Unter den Prämissen der Europäischen Kommission wird Flüchtlingspolitik nicht mehr von der Genfer Flüchtlingskonvention und dort zugrunde gelegten Menschen- und Grundrechten gedacht und ist damit kein Instrument zugunsten derjenigen mehr, die Schutz benötigen. Flüchtlingspolitik adressiert vielmehr die nationale und europäische Souveränität, dient der Abschottung und Sicherung von Grenzen und Territorien und verlangt eine Entrechtung der Schutzsuchenden.

Die Vorschläge der europäischen Kommission richten sich zugleich an diejenigen Menschen, die derzeit in Kara Tepe auf Lesbos, ohne Strom und Duschen ausharren, ohne medizinische Versorgung leiden, nach Hilfe rufen und warten. Die Botschaft aus Brüssel an sie lautet: „Macht Euch keine Hoffnungen, you are not welcome!“

Foto: Asuka Kähler


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