20. Dezember 2020
Kolumne von Lamya Kaddor
Bei vielen Italiener*innen sind die Wunden und Narben, die ihnen als „Gastarbeiter“ in Deutschland angetan wurden, bis heute nicht geheilt. Man hat sie vorverurteilt, beschimpft, ausgegrenzt. Discos und Gastwirtschaften verwehrten ihnen den Eintritt, und in ein ehrenwertes deutsches Mietshaus durften sie schon gar nicht einziehen.
Heute vor 65 Jahren schloss die Bundesrepublik das erste Anwerbeabkommen für Gastarbeiter aus Italien ab, das Westdeutschland viel Glück und manch „Gast“ viel seelisches Unglück bescherte. Fast alle können von unfreundlichen Begegnungen mit der Gesellschaft bloß wegen ihrer Herkunft berichten – auf der Arbeit, in der Nachbarschaft, im Bus, Supermarkt, Bahnhof, Freizeitpark oder sonst wo.
Ähnliches gilt für andere „Gastarbeiter“. Heute hat sich vieles in Deutschland zum Besseren gewendet. Offene Diskriminierung, rassistische Äußerungen werden weniger oft hingenommen. Die, die sich so äußeren, müssen damit rechnen, dass ihnen kräftiger Gegenwind ins Gesicht pfeift. Und das ist gut so.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil bat diese Woche sogar um Verzeihung dafür, dass Deutschland die „Gastarbeiter“ nur als Arbeitskräfte, nicht als Menschen gesehen habe. Er sprach von einer „Lebenslüge“ der frühen Bundesrepublik, die sich vorgemacht habe, kein Einwanderungsland zu sein. Bis zur Prägung Westdeutschlands durch die Schmidt-SPD und die Kohl-Union war das noch vor gerade mal 20 Jahren politischer Konsens.
Aber trotz der Fortschritte erleben Menschen, die heute nach Deutschland kommen, so manches immer noch genauso wie einst die „Gastarbeiter“. Diejenigen, die früher Italiener verachteten, erklären sie heute zu den „besseren Ausländern“ – im Vergleich zu Türken, Arabern, Afrikanern. Von solchen Äußerungen sollte sich niemand täuschen lassen. Viele Italiener sind längst wieder zurückgegangen, weil sie die Kälte in diesem Land nicht ertragen haben. Würden heute wieder Zehntausende kommen, wären sie nicht mehr die „besseren Ausländer“.
Die Geschichte der Einwanderung zeigt: Völlig egal, wer kommt, ob Polen vor dem Krieg, Ostpreußen nach dem Krieg, DDR-Bürger nach der friedlichen Revolution oder Klima-Flüchtlinge aus Afrika, immer gab und gibt es Stigmatisierungen. Den Hassern ist es egal, wen sie als „fremd“ sehen wollen und warum. Angebliche Gründe wie fremde Religion, fremde Kultur, fremder Kontinent, sind nur vorgeschoben.
Dieses Verhalten ist nicht typisch deutsch. In allen anderen Gesellschaften ist es ähnlich. Aber Whataboutism kann nicht davon ablenken, dass Deutschland noch viel zu tun hat. Dazu gehört primär: Die Gesellschaft muss weiter verinnerlichen, dass wirtschaftlich erfolgreiche, moderne freiheitliche Gesellschaften nur vielfältig und nicht heterogen, völkisch-nationalistisch sein können. Erst wenn dieser Grundkonsens auf dem breitest möglichen Fundament ruht, kann Zusammenleben nach gemeinsamen Regeln, die im Grundgesetz verankert sind, funktionieren.
Gesellschaftliche Vielfalt in Deutschland ist seit langem Realität. Sie endlich anzuerkennen, wäre ein großer Schritt nach vorn. Die Politik ist diesen mit Ausnahme der AfD natürlich und Ewiggestriger in anderen Parteien längst gegangen. Es wird Zeit, dass die Bevölkerung ihn auch wagt. Dabei müssen wir sie unterstützen. Ängste nehmen und positive Beispiele präsentieren. Es gibt genug davon.
Foto: FH Münster